Rohe: Demokratie mit Scharia ist möglich
Scharia ist nicht gleich Scharia: Moderne und mittelalterliche Interpretationen seien möglich, sagt Mathias Rohe, Experte für Islam und Recht in Europa. "Wenn man heute Reformen durchführen will in der islamischen Welt und nicht nur die Hauptstadteliten mitnehmen (...), dann muss man innerhalb der Scharia argumentieren", erklärt er.
Nana Brink:Was bedeutet denn die Anwendung von Allahs Gesetzbuch, also der Scharia, für einen Rechtsstaat? Das möchte ich jetzt besprechen mit einem ausgewiesenen Experten auf diesem Gebiet: Mathias Rohe. Er ist Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa. Einen schönen guten Morgen, Herr Rohe!
Mathias Rohe: Schönen guten Morgen, Frau Brink.
Brink: Was ist denn genau die Scharia?
Rohe: Wenn man das nur so genau wüsste. Es ist jedenfalls nicht ein Gesetzbuch, sondern es ist ein hoch komplexes System von Normen, von Quellen, die sowohl den religiösen als auch den rechtlichen Bereich des Islam abdecken.
Brink: Und es gibt unterschiedliche Interpretationen, gehe ich mal davon aus, in der arabischen Welt.
Rohe: So ist es. Das hat es in der Vergangenheit schon gegeben und auch in der Gegenwart. Um es gleich konkret zu machen: Auf der Basis von Scharia hat Tunesien 1956 die Polygamie abgeschafft, also den Koran in einer bestimmten Weise gelesen, während das in anderen Staaten noch fortgilt. Das heißt, es kommt sehr auf die Interpreten an, auf ihre Vorverständnisse, die Antworten sind alles andere als klar.
Brink: Können Sie uns mal ein paar unterschiedliche Interpretationen, also besonders harsche und besonders milde, nennen in der arabischen Welt? Sie haben ja schon ein Beispiel genannt.
Rohe: Man kann zum Beispiel die Rechtsordnungen Tunesiens und Saudi-Arabiens gegenüberstellen. In Tunesien haben Frauen die Möglichkeit, in vollem Umfang am öffentlichen Leben teilzunehmen, sie sind rechtlich annähernd gleichberechtigt; in Saudi-Arabien ist davon überhaupt nichts zu sehen. Das sind einfach unterschiedliche Zugänge zu den Quellen. Manche halten sich sehr am Wortlaut fest und dann ist man im Grunde im 7. Jahrhundert, und andere versuchen, den Sinn zu verstehen und sich zu sagen, der Sinn muss in jeder Generation wieder neu gefunden werden, die Lebensumstände ändern sich, also ändern sich auch die Interpretationen. Das ist eine Herangehensweise, die eigentlich zunehmend Anhänger gewinnt.
Brink: Ist dann diese Frage einfach zu beantworten, die Scharia, würde sie einer Modernisierung eines Rechtsverständnisses in unserem Sinne im Wege stehen?
Rohe: Das kann man so pauschal nicht sagen. Scharia wird in der islamischen Welt von vielen Muslimen jedenfalls ganz anders aufgefasst als in einem Außenblick. Wir denken an die drakonischen Körperstrafen, an Ungleichheit der Geschlechter. Viele Muslime denken an Schutz gegen Korruption, ethische Grundnormen, die darin ja auch enthalten sind. Und wenn man heute Reformen durchführen will in der islamischen Welt und will nicht nur die Hauptstadteliten mitnehmen, sondern die breite Bevölkerung, dann muss man im Grunde innerhalb der Scharia argumentieren und dann beispielsweise sagen, Scharia schützt Bürger vor staatlicher Willkür. Das ist die Argumentation der ägyptischen Muslimbrüder im Moment. Also es kommt auf die Inhalte, auf die konkrete Interpretation an und nicht auf das Label, ob da jetzt Scharia draufsteht oder nicht.
Brink: Welche Art der Scharia müssen wir dann zum Beispiel für Libyen annehmen, dessen Beispiel ich ja schon zitiert habe? Das soll wieder die Grundlage für das neue Rechtssystem des Landes sein.
Rohe: Es ist im Grunde bisher schon in den relevanten Bereichen die Grundlage. Das libysche Familienrecht baut auf Scharia auf. Auch bisher ist die Polygamie schon zulässig in Libyen. Die Verschärfung, die jetzt kommen soll – und das ist ein klarer Rückschritt, das muss man sagen -, ist, dass die Zustimmung der Erstfrau nicht mehr erforderlich sein soll für die polygame Ehe. Gerichte müssen noch zustimmen, das scheint mir eine Konzession an die Islamisten zu sein. Manchmal weiß man nicht genau, vielleicht gibt es auch gerade einen konkreten Fall, wo einer das durchdrücken will, und dann geht es nach dem Berlusconi-Prinzip, ich mache mir die Gesetze, die mir passen.
Brink: In Tunesien, um noch mal bei diesem Beispiel zu bleiben, fanden am Sonntag Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung statt, und bislang war Tunesien eher ein gesellschaftlich liberal verfasster Staat, trotz repressiver Diktatur. Die Mehrheit der islamistischen Ennahda-Partei - welche Rolle wird das für die Verfassung spielen, aber auch für das öffentliche Leben?
Rohe: Zuerst muss man zur Kenntnis nehmen, dass es wohl tatsächlich eine demokratische Wahl gewesen ist. Das heißt, das tunesische Volk hat erst mal entschieden, welche Repräsentanten da künftig mitbestimmen sollen. Ich habe den Eindruck, dass die führenden Leute von Ennahda, jedenfalls was sie bisher gesagt haben, klug genug sind, das bisher Erreichte nicht anzutasten. Sie sagen ausdrücklich, wir wollen die Frauenrechte nicht antasten, wir wollen den erreichten Zustand nicht antasten. Ich verstehe die Sorgen der Liberaleren, dass sie sagen, na gut, das ist ein Statement, aber wer weiß, was tatsächlich daraus wird, und das geht uns sicher allen so. Man kann es nicht prognostizieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer vergleichsweise liberalen Gesellschaft wie der tunesischen nun so ein strikter Scharia-Islamismus durchgesetzt werden kann, wie wir ihn beispielsweise noch in Saudi-Arabien haben.
Brink: Müssen wir dann einfach zur Kenntnis nehmen, dass es auch eine Form der Demokratie mit einer Scharia geben kann, sozusagen ein arabisches Modell?
Rohe: Im Grunde ja. Wichtig ist, dass die Inhalte stimmen. Aber wie die einzelnen Gesellschaften auf der Welt sich einrichten, das hängt sehr stark von den lokalen Umständen ab. Und wir sollten vielleicht auch sehen, dass ein Teil der Attraktivität von Scharia und Islamisten darin besteht, dass sie vernünftige Sozialarbeit gemacht haben, dass sie nicht als korrupt gelten im Gegensatz zu manchen anderen, die liberale Gedanken vor sich hertragen. Das interessiert die Leute oft sehr viel mehr als irgendwelche Erklärungen auf dem Papier.
Brink: Sehen Sie denn die Scharia generell auf dem Vormarsch?
Rohe: Das kann man so nicht sagen. Ich habe eher den Eindruck, wir haben in vielen Teilen der islamischen Welt so eine Entrechtlichung der Scharia und mehr eine Interpretation als ein ethischer oder moralischer Kodex. Das ist jedenfalls etwas, was wir unter Muslimen im Westen sehr stark beobachten können, und ich muss sagen, das erfüllt mich mit einiger Zuversicht.
Brink: Und wie würden Sie dann einschätzen sozusagen den muslimischen Blick in Europa, wenn die Muslime hier auf die arabische Welt gucken?
Rohe: Ich denke, es hilft ihnen sehr, weil die arabische Welt im Moment demonstriert, dass es auch starke demokratisch-rechtstaatlich gesonnene Kräfte gibt, die sich sehr wohl auf den Islam beziehen, die Muslime sind, aber eben im Grunde denselben Ideen anhängen wie wir auch. Das hilft bei der Abwehr dieser Vorstellung, Islam und Scharia, das ist das völlig andere, das ist das Gegenmodell zu uns. So ist es eben gerade nicht.
Brink: Mathias Rohe, Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa. Schönen Dank, Herr Rohe, für das Gespräch.
Rohe: Sehr gerne, Frau Brink.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Mathias Rohe: Schönen guten Morgen, Frau Brink.
Brink: Was ist denn genau die Scharia?
Rohe: Wenn man das nur so genau wüsste. Es ist jedenfalls nicht ein Gesetzbuch, sondern es ist ein hoch komplexes System von Normen, von Quellen, die sowohl den religiösen als auch den rechtlichen Bereich des Islam abdecken.
Brink: Und es gibt unterschiedliche Interpretationen, gehe ich mal davon aus, in der arabischen Welt.
Rohe: So ist es. Das hat es in der Vergangenheit schon gegeben und auch in der Gegenwart. Um es gleich konkret zu machen: Auf der Basis von Scharia hat Tunesien 1956 die Polygamie abgeschafft, also den Koran in einer bestimmten Weise gelesen, während das in anderen Staaten noch fortgilt. Das heißt, es kommt sehr auf die Interpreten an, auf ihre Vorverständnisse, die Antworten sind alles andere als klar.
Brink: Können Sie uns mal ein paar unterschiedliche Interpretationen, also besonders harsche und besonders milde, nennen in der arabischen Welt? Sie haben ja schon ein Beispiel genannt.
Rohe: Man kann zum Beispiel die Rechtsordnungen Tunesiens und Saudi-Arabiens gegenüberstellen. In Tunesien haben Frauen die Möglichkeit, in vollem Umfang am öffentlichen Leben teilzunehmen, sie sind rechtlich annähernd gleichberechtigt; in Saudi-Arabien ist davon überhaupt nichts zu sehen. Das sind einfach unterschiedliche Zugänge zu den Quellen. Manche halten sich sehr am Wortlaut fest und dann ist man im Grunde im 7. Jahrhundert, und andere versuchen, den Sinn zu verstehen und sich zu sagen, der Sinn muss in jeder Generation wieder neu gefunden werden, die Lebensumstände ändern sich, also ändern sich auch die Interpretationen. Das ist eine Herangehensweise, die eigentlich zunehmend Anhänger gewinnt.
Brink: Ist dann diese Frage einfach zu beantworten, die Scharia, würde sie einer Modernisierung eines Rechtsverständnisses in unserem Sinne im Wege stehen?
Rohe: Das kann man so pauschal nicht sagen. Scharia wird in der islamischen Welt von vielen Muslimen jedenfalls ganz anders aufgefasst als in einem Außenblick. Wir denken an die drakonischen Körperstrafen, an Ungleichheit der Geschlechter. Viele Muslime denken an Schutz gegen Korruption, ethische Grundnormen, die darin ja auch enthalten sind. Und wenn man heute Reformen durchführen will in der islamischen Welt und will nicht nur die Hauptstadteliten mitnehmen, sondern die breite Bevölkerung, dann muss man im Grunde innerhalb der Scharia argumentieren und dann beispielsweise sagen, Scharia schützt Bürger vor staatlicher Willkür. Das ist die Argumentation der ägyptischen Muslimbrüder im Moment. Also es kommt auf die Inhalte, auf die konkrete Interpretation an und nicht auf das Label, ob da jetzt Scharia draufsteht oder nicht.
Brink: Welche Art der Scharia müssen wir dann zum Beispiel für Libyen annehmen, dessen Beispiel ich ja schon zitiert habe? Das soll wieder die Grundlage für das neue Rechtssystem des Landes sein.
Rohe: Es ist im Grunde bisher schon in den relevanten Bereichen die Grundlage. Das libysche Familienrecht baut auf Scharia auf. Auch bisher ist die Polygamie schon zulässig in Libyen. Die Verschärfung, die jetzt kommen soll – und das ist ein klarer Rückschritt, das muss man sagen -, ist, dass die Zustimmung der Erstfrau nicht mehr erforderlich sein soll für die polygame Ehe. Gerichte müssen noch zustimmen, das scheint mir eine Konzession an die Islamisten zu sein. Manchmal weiß man nicht genau, vielleicht gibt es auch gerade einen konkreten Fall, wo einer das durchdrücken will, und dann geht es nach dem Berlusconi-Prinzip, ich mache mir die Gesetze, die mir passen.
Brink: In Tunesien, um noch mal bei diesem Beispiel zu bleiben, fanden am Sonntag Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung statt, und bislang war Tunesien eher ein gesellschaftlich liberal verfasster Staat, trotz repressiver Diktatur. Die Mehrheit der islamistischen Ennahda-Partei - welche Rolle wird das für die Verfassung spielen, aber auch für das öffentliche Leben?
Rohe: Zuerst muss man zur Kenntnis nehmen, dass es wohl tatsächlich eine demokratische Wahl gewesen ist. Das heißt, das tunesische Volk hat erst mal entschieden, welche Repräsentanten da künftig mitbestimmen sollen. Ich habe den Eindruck, dass die führenden Leute von Ennahda, jedenfalls was sie bisher gesagt haben, klug genug sind, das bisher Erreichte nicht anzutasten. Sie sagen ausdrücklich, wir wollen die Frauenrechte nicht antasten, wir wollen den erreichten Zustand nicht antasten. Ich verstehe die Sorgen der Liberaleren, dass sie sagen, na gut, das ist ein Statement, aber wer weiß, was tatsächlich daraus wird, und das geht uns sicher allen so. Man kann es nicht prognostizieren. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass in einer vergleichsweise liberalen Gesellschaft wie der tunesischen nun so ein strikter Scharia-Islamismus durchgesetzt werden kann, wie wir ihn beispielsweise noch in Saudi-Arabien haben.
Brink: Müssen wir dann einfach zur Kenntnis nehmen, dass es auch eine Form der Demokratie mit einer Scharia geben kann, sozusagen ein arabisches Modell?
Rohe: Im Grunde ja. Wichtig ist, dass die Inhalte stimmen. Aber wie die einzelnen Gesellschaften auf der Welt sich einrichten, das hängt sehr stark von den lokalen Umständen ab. Und wir sollten vielleicht auch sehen, dass ein Teil der Attraktivität von Scharia und Islamisten darin besteht, dass sie vernünftige Sozialarbeit gemacht haben, dass sie nicht als korrupt gelten im Gegensatz zu manchen anderen, die liberale Gedanken vor sich hertragen. Das interessiert die Leute oft sehr viel mehr als irgendwelche Erklärungen auf dem Papier.
Brink: Sehen Sie denn die Scharia generell auf dem Vormarsch?
Rohe: Das kann man so nicht sagen. Ich habe eher den Eindruck, wir haben in vielen Teilen der islamischen Welt so eine Entrechtlichung der Scharia und mehr eine Interpretation als ein ethischer oder moralischer Kodex. Das ist jedenfalls etwas, was wir unter Muslimen im Westen sehr stark beobachten können, und ich muss sagen, das erfüllt mich mit einiger Zuversicht.
Brink: Und wie würden Sie dann einschätzen sozusagen den muslimischen Blick in Europa, wenn die Muslime hier auf die arabische Welt gucken?
Rohe: Ich denke, es hilft ihnen sehr, weil die arabische Welt im Moment demonstriert, dass es auch starke demokratisch-rechtstaatlich gesonnene Kräfte gibt, die sich sehr wohl auf den Islam beziehen, die Muslime sind, aber eben im Grunde denselben Ideen anhängen wie wir auch. Das hilft bei der Abwehr dieser Vorstellung, Islam und Scharia, das ist das völlig andere, das ist das Gegenmodell zu uns. So ist es eben gerade nicht.
Brink: Mathias Rohe, Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa. Schönen Dank, Herr Rohe, für das Gespräch.
Rohe: Sehr gerne, Frau Brink.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.