Roland Schulz: "So sterben wir"
Piper Verlag, München
240 Seiten, 20 Euro
Eine Buchlänge sterben
Das Herz bleibt stehen. Wir atmen ein letztes Mal. Dann sind wir tot. Was genau geschieht, wenn wir sterben? Das beantwortet Roland Schulz akribisch in einem furchtbaren und grandiosen Buch.
Bloß nicht dran denken: an den Tod. Nicht an das immer näher rückende Ende unserer Eltern. Nicht an den drohenden Tod unserer krebskranken Schwester. Und erst recht nicht an unser eigenes Sterben. Trotzdem konnte ich dieses Buch nicht beiseite legen: "So sterben wir. Unser Ende und was wir darüber wissen sollten."
Roland Schulz hat unser Sterben detailversessen recherchiert. Er hat mit Sterbenden, mit deren Freunden und Angehörigen gesprochen. Er hat eine Ärztin bei der Totenschau begleitet. Er hat die Beamtin im Sterberegister besucht. Er war in Pflegeheimen und Hospizen. Er hat sich das Sterben von Palliativmedizinern erklären lassen und hat beim Bestatter hospitiert. Das wäre schon packend genug. Doch damit wirklich niemand verdrängen kann, dass es hier nicht um den Tod an sich geht, sondern um unser eigenes Sterben, wählt Schulz einen radikalen stilistischen Kniff. Er erzählt keine einzelne Schicksale, sondern verdichtet seine Recherchen zum "Otto Normalsterbenden". Und dieser Normalsterbende sind wir, die Leser.
Hier geht es um Deinen eigenen Tod
Schulz spricht uns direkt an: "Tage vor deinem Tod, wenn noch niemand deine Sterbestunde kennt, hört dein Herz auf, Blut bis in die Fingerspitzen zu pumpen. Wird anderswo gebraucht. In deinem Kopf. Im Kern deines Körpers, wo deine Lunge liegt, dein Herz, deine Leber. Auch aus den Zehenspitzen zieht sich das Blut zurück. Deine Füße werden kalt. Dein Atem verflacht. Die Sinne schwinden. Dein Körper leitet den Abschied vom Leben ein." So beginnt Schulz sein Buch, und so schreibt er das ganze Buch.
Es hätte viel schief gehen können mit diesem Tonfall und diesem "Du". Es hätte aufdringlich oder pathetisch geraten können. Schulz trifft aber den richtigen Ton, er ist stilsicher, schreibt nüchtern. Minutiös beschreibt er, wie unser Sterben vonstatten geht. Er beschreibt unser soziales Sterben, wenn eine Diagnose uns in Todgeweihte verwandelt und die Menschen um uns herum sich verändern. Er seziert die Prozesse des Verfalls vom Herzstillstand und letzten Atemzug über den Hirntod bis zum klinischen Tod. Er beschreibt das letzte Aufflackern und das leise geistige Eintrüben. Er beschreibt die Totenflecken genauso wie die übliche Praxis, dem Leichnam den Mund zuzunähen, damit er im Sarg nicht blöde offensteht. Er folgt dem Tod durch Krematorium und Bestattung, durch Trauer und Bürokratie, bis ins Vergessen. Ein Durchschnittstod in einer Zeit, in der wir nicht mehr im Kindsbett oder im Krieg sterben.
Ein furchtbares und grandioses Buch
Trotz aller Durchschnittlichkeit bleibt das Sterben aber unberechenbar. Überrascht muss Schulz feststellen, wie viel auch für erfahrene Mediziner im Ungewissen bleibt. Ob das Stöhnen von Sterbenden Ausdruck von Leid ist – oder loslassendes Seufzen. Wann genau der Geist in die Bewusstlosigkeit gleitet – oder in einen Traum – oder längst fort ist. Weil er ja niemanden befragen kann, der schon gestorben ist. Das Sterben, so lautet eine Gewissheit am Ende dieses so erkenntnisbringenden Buches, bleibt vielfach dann doch unerklärt.
Ein wenig Trost liegt dann ausgerechnet in der Trostlosigkeit. Denn Schulz beendet sein Buch nicht mit unserem eigenen Tod, nicht mit der Bestattung, auch nicht mit denen, die um uns trauern. Sondern Generationen später mit Tod des letzten Menschen, der noch einen Funken von Erinnerung an uns in sich trug: "Damit ist auch Dein Tod vollkommen, weil Du vollständig in Vergessenheit fällst, wie alle anderen vor Dir." Und in dieser Gewissheit, eines Tages wie all die Milliarden Menschen vor uns völlig vergessen zu sein – darin steckt eine befremdliche Erleichterung.
"So sterben wir" ist ein furchtbares und ein grandioses Buch. Ich habe es nicht gerne gelesen, bin aber heilfroh, es gelesen zu haben.