Rolf Peter Sieferle: "Finis Germania"

Intellektueller Anstrich für ideologische Extremisten

Der Journalist René Aguigah
Der Journalist René Aguigah © Foto: Deutschlandradio - Bettina Straub
Von René Aguigah |
Das Buch "Finis Germania" des Historikers Rolf Peter Sieferle hat - indem es auf einer Bestenliste stand - eine große Debatte ausgelöst. Indem es den Holocaust instrumentalisiere und verharmlose, wolle es ideologischen Extremisten einen intellektuellen Anstrich geben, meint unser Kritiker.
Manchmal muss man lachen während der Lektüre dieses Buches. In einem Abschnitt unter der Überschrift "Am Meer" skizziert Rolf Peter Sieferle einen verdreckten Strand. Flaschen, Verpackungen, Plastikfetzen, abstoßender Müll statt Muscheln zum Sammeln: eine Beleidigung der Sinne. Aber ließe sich das nicht auch anders sehen? fragt Sieferle.
"Könnte der Mensch nicht stolz darauf sein, dass die Spuren seiner Werke selbst an den entferntesten, nur scheinbar unberührten Stränden zu finden sind? Jede Plastikflasche ein Liebesgruß unserer Mitbürger?"
Ein zynisches Lachen steckt im Text selbst, während der Leser über den anspielungsreich konstruierten Anti-Kitsch grinst. Da klingt der Umwelthistoriker durch, als der sich Sieferle schon früh in den 80er-Jahren profiliert hatte. Und der kurze Text erinnert an jenes Meeresufer, an dem Michel Foucault einst den Menschen wie ein Gesicht im Sand hat verschwinden lassen. In Sieferles Umkehrung ist der Mensch dagegen eine vulgäre, allgegenwärtige Masse.
Zynismus, Bitterkeit, resignierende Wut stecken in jedem der 31 jeweils in sich geschlossenen Texte, die das Buch versammelt; Aphorismen, Essays, Miszellen. Es ist ein Tonfall ätzender Kulturkritik, den der Historiker Rolf Peter Sieferle (1949-2016) hier anstimmt. Denkt er an Deutschland, fallen ihm fortwährend Anlässe zur Klage ein. Die einflussreiche These, Deutschland habe in der Moderne einen geschichtlichen Sonderweg eingeschlagen: "Hokuspokus". Die "Herrschaftskultur" der Bundesrepublik: "kleinbürgerlich". Zentrales Merkmal der Deutschen: ihr "fundamentaler Sozialdemokratismus", der Unterschiede innerhalb der eigenen Gesellschaft nicht ertrage. Außerdem typisch für die Deutschen: ihre Angst. Der Kulturkritiker porträtiert sie als "Hühner-Volk", wieder zynisch lachend, diesmal mit der Diagnose des Soziologen Ulrich Beck im Hinterkopf: "Nur ein Deutscher konnte auf die Idee kommen, den Zustand der Herde, die bis ins Letzte sozial-, kranken-, hausrat-, unfall- und feuerversichert ist, mit dem Begriff einer 'Risikogesellschaft' zu belegen."

NS-Massenmorde als strategischer Fehler?

Um diese Dinge so zu sehen, muss man politisch noch nicht rechts orientiert sein. Das ideologisch Radikale in diesem Buch verbirgt sich woanders. Etwa in sprachlichen Wendungen wie der, dass der Nationalsozialismus seinen Gegnern den "Gefallen" getan habe, "sich mit unvorstellbaren Greueltaten zu beflecken", was einem "moralische(n) Extraprofit für die Linke" gleichkomme, von dem diese bis heute zehre. Die NS-Massenmorde als Fleck, als strategischer Fehler, der dem "Antifaschismus" nütze? Erste Hinweise darauf, wie dieses Buch den Holocaust instrumentalisiert und verharmlost.
Anderes Beispiel, andere Ebene: Um zu zeigen, dass Verantwortung im zwischenmenschlichen Nahbereich eine relevante Größe sei, nicht aber in der Sphäre der Politik, kontrastiert Sieferle einen Handtaschenräuber mit einem totalitären Politiker. Der Handtaschenräuber werde heute kaum noch zur Verantwortung gezogen – und wenn doch, dann gleich als Opfer der Verhältnisse entschuldigt. Amtsträger eines "besiegten alternativen Geschichtsentwurfs" zerre man dagegen vor Gericht – Honecker etwa –, obwohl Verantwortung hier keine sinnvolle Kategorie sei. "Wenn jemand 'Opfer der Verhältnisse' ist, dann er", meint Sieferle. Hier könnte man sich "Milde und Nachsicht" leisten. Wer dieser Logik folgt, müsste sich die Nürnberger Prozesse ebenso aus der Welt wünschen wie den Gerichtshof in Den Haag.
Grell ideologisch wird es in jenen Kapiteln, die unter der Überschrift "Mythos VB" zusammengefasst sind; "VB" offenbar als Kürzel für Vergangenheitsbewältigung. Diese besteht nach Sieferles Meinung darin, dass aus der Judenvernichtung nach 1945 die "singulärste (!) Schuld auf Erden" gemacht worden sei - eine Schuld "von metaphysischen Dimensionen", die niemals getilgt werden könne. Der Deutsche erscheine als säkularer "Teufel". All dies habe die Bundesrepublik als "Staatsreligion" fest verankert. Durchgängig analogisiert Sieferle das jüdische und das deutsche "Volk": Die Juden hätten den christlichen Gottessohn umgebracht – und die Deutschen später die Juden. Auch die Deutschen seien also ein – negativ – "auserwähltes Volk".

Mehr als 20 Jahre alt

Wo sollte man anfangen, wo aufhören, wenn man die Widerwärtigkeit dieser Erzählung ausführlich zeigen wollte? Vielleicht mit der schlichten Erinnerung: Bei der Tötung Jesu Christi und deren Umständen handelt es sich um einen religiösen Glaubensinhalt; der industrielle NS-Massenmord an Juden und anderen Gruppen ist eine historisch reale Tatsache. Man müsste auf die Obszönität eingehen, die darin besteht, dass in dieser Sicht die Deutschen die größeren Opfer sind, weil ihnen göttliche Gnade ewig versagt bleibe. Und vermutlich würde man enden mit den ungezählten Formulierungen, in denen die Verschleierung des Holocaust nistet. Beispielsweise sind die "Greueltaten" den Juden in Sieferles Erzählung "widerfahren", als hätte es sich dabei, statt um ein Verbrechen mit benennbaren Tätern, um ein unabwendbares Schicksal gehandelt.
Man muss davon ausgehen, dass der Text im Wesentlichen mehr als 20 Jahre alt ist (eine genaue editorische Notiz anzufertigen hat der Verlag versäumt). Die Gegenwart wird dort auf "fünfzig Jahre nach großen Greueltaten" datiert, die EU heißt dort noch EG, und der Autor schlägt sarkastisch vor, den Buß- und Bettag abzuschaffen, was die Bundesrepublik bereits 1994 getan hat. Vor allem aber wird die Energie, mit der Sieferle sich an der Einzigartigkeit des Holocaust abarbeitet, besser nachvollziehbar, wenn man sie auf den Historikerstreit der Jahre 1986/87 bezieht. Den Historikerstreithähnen von damals schien dies eine unversöhnliche Alternative: Singularität oder nicht. Heute ist diese Gegnerschaft ein Popanz. Vergleichende Völkermordforschung ist eine etablierte Disziplin – die es nicht nötig hat, die Einzigartigkeit der Judenvernichtung zu bestreiten. In der politischen Landschaft von heute erfüllt ein Büchlein wie dieses nur einen Zweck: ideologischen Extremisten einen intellektuellen Anstrich zu geben.

Rolf Peter Sieferle: "Finis Germania"
Antaios Verlag, Steigra 2017
104 Seiten, 8,50 Euro

Mehr zum Thema