Der Beitrag entstand im Rahmen eines Hörfunk-Projekts im Studiengang Kulturjournalismus der Universität der Künste Berlin.
Erfolgreich im Kampf um selbstbestimmte Arbeit
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Duygu Özen wollte ihr Berufsleben selbst in die Hand nehmen: Die lernbehinderte Rollstuhlfahrerin sollte gegen ihren Willen in eine Behindertenwerkstatt. Am Ende gewann sie einen langen und anstrengenden Kampf gegen die Agentur für Arbeit.
Licht fällt durch die großen Fenster in das riesige Loft in Berlin-Wedding. Duygu Özen begrüßt mich im "Tuechtig", einem inklusiven Co-Working Space für Menschen mit und ohne Behinderung. Hier hat auch "Kopf, Hand und Fuß" seinen Sitz. Der Technologie- und Bildungsdienstleister für Inklusionsprojekte ist der Arbeitgeber von Duygu Özen, die Rollstuhlfahrerin ist und Lernschwierigkeiten hat.
Doch das war für die 23-Jährige ein jahrelanger, anstrengender Kampf. Seit ihrer Kindheit unterschied sich ihre Ausbildung von der anderer Kinder.
"Erst war ich auf einer normalen Schule für Körperbehinderte", erzählt sie. "Und danach bin ich in einer Schule mit Förderschwerpunkt geistige Entwicklung gelandet. Da ging es um Übungssachen. Wie man zum Beispiel einen Tisch wischt, Tisch deckt. Becher einräumen. Die Schule war quasi für mich zu leicht. Also, da bräuchte ich andere Aufgaben".
In ihrem letzten Schuljahr begutachtete die Agentur für Arbeit Duygu Özen, um herauszufinden, welche beruflichen Möglichkeiten für sie in Frage kommen.
Die Sozialarbeiterin Anne Gersdorff hat Özen während dieses Prozesses unterstützt.
"Grundsätzlich gibt es echt viele Möglichkeiten", sagt sie. "Das Problem da ist: Menschen mit Behinderung werden häufig durch ein Gutachten in eine Schublade einsortiert und aus dieser Schublade rauszukommen oder einen alternativen Weg zu gehen, das ist häufig ziemlich schwer."
"Ich wollte nicht nur mit Behinderten zusammen sein"
Genau das ist mit Duygu Özen passiert. "Beim Gutachten kam raus, dass ich nicht arbeitsmarktfähig bin, sondern in eine Werkstatt gehöre", sagt sie. Werkstätten für Menschen mit Behinderungen bieten besondere Arbeitsbedingungen.
Aber damit wollte sie sich nicht abfinden: "Ich wollte nicht nur mit Behinderten zusammen sein. Ich wollte mit allen arbeiten. Also gemischt, weil es auf Dauer nicht gut ist, zieht dich auch nach unten, willst du dann selber auch nicht mehr viel machen. Es ging mir um Erfüllung".
Özen geht auf Empfehlung eines Lehrers zum "Bis", einem Verein, der Behinderte berät. Der Verein vermittelt ihnen Praktika und unterrichtet sie in Mathe und Deutsch. Es entstand die Idee, bei der Arbeitsagentur ein sogenanntes "persönliches Budget" zu beantragen, mit dem sie unabhängig und selbstbestimmt Integrationsleistungen in Anspruch nehmen könnte. Der Antrag wurde jedoch abgelehnt. Die Arbeitsagentur Berlin-Nord teilte dazu auf Anfrage mit, das Konzept des Vereins habe zu diesem Zeitpunkt "qualitative Mängel aufgewiesen".
"Ich denke, dass sie es sich selber einfacher machen", sagt Duygu Özen. "Ob die Menschen das wollen oder nicht, ist ihnen egal."
Fest entschlossen, ihr Berufsleben selbst zu bestimmen, entschied sich Özen im Jahr 2015, eine Klage gegen die Arbeitsagentur einzureichen. Und sucht auf eigene Faust weiter nach einem Job.
Die Sozialarbeiterin Anne Gersdorff: "Die Agentur für Arbeit kann sich im Prinzip nicht vorstellen, dass es Orte gibt, wo eben Frau Özen zu den Bedingungen, die sie braucht, arbeiten kann. Wir haben aber einen Ort gefunden. Und das ist eben das 'Tuechtig', bei 'Kopf, Hand und Fuß'."
Neues Gutachten erst nach einer Unterschriftenaktion
Im November 2018 fand die Gerichtsverhandlung statt: Die Agentur für Arbeit soll den Fall noch einmal prüfen. Es gebe keinen Grund, warum Özens Wunsch nicht erfüllt werden könne.
Geändert habe sich jedoch nichts, sagt Anne Gersdorff: "Irgendwann haben wir festgestellt, dass wir nur mit netten Reden und rechtlichen Schritten nicht weiterkommen. Und dann gab es die Idee, mit Frau Özen Unterschriften zu sammeln."
"Es waren 35.000 Unterschriften, die wir gesammelt haben. Und danach ging es alles plötzlich schnell", erzählt Duygu Özen.
Die Agentur für Arbeit erstellt ein neues Gutachten - und bescheinigt ihr nun eine "positive Entwicklung." Gleichzeitig habe, so teilt die Arbeitsagentur mit, der Träger, "Bis e.V.", sein Konzept überarbeitet. Seit Juni letzten Jahres bezahlt die Arbeitsagentur ihre Ausbildung im "Bis" und ihre Assistenten, die sie zum Praktikum begleiten.
Mittlerweile ist Özen zertifizierte "Prüferin in leichter Sprache". Sie prüft, ob Texte aus den Inklusionsprojekten von "Kopf, Hand und Fuß" für Menschen mit Lernschwierigkeiten verständlich sind.
"Es ist einfach schön", sagt sie. "Ich habe mich sehr entwickelt, bin aktiver geworden, bin nicht mehr so schüchtern wir früher".