"Roma raus"
In dem Ort Tiszavasvári regiert der erste und bislang einzige rechtsextreme Bürgermeister Ungarns. Ein Fünftel der Einwohner seines Städtchens sind Roma, der Bürgermeister und Jobbik-Politiker spricht von "Parasiten".
Tiszavasvári, eine Kleinstadt in Ostungarn, drei Autostunden von Budapest entfernt. Die Kneipe am Marktplatz trägt den illustren Namen "Amazonas" und öffnet jeden Morgen um sechs. Schon um diese Zeit stehen einige Gäste mit Flaschenbier in der Hand vor den Spielautomaten. Gleich neben dem Tresen trinken vier Männer Kaffee und lassen Dampf ab. Sie klagen über schlechte Löhne und hohe Kriminalität, sie schimpfen auf korrupte Politiker und die so benannten Zigeuner im Ort. Ihre Namen möchten sie nicht nennen. Einer von ihnen, ein Vater zweier Kinder, der in einer Fabrik für pharmazeutische Grundstoffe arbeitet, bringt seinen Frust auf den Punkt:
"Ich sollte es nicht so drastisch sagen, aber die Zigeuner sind einfach Ungeziefer. Ich würde es hier machen wie in Amerika: Kommen sie bei einem durch die Pforte, einfach abknallen. Dann würde es keine Diebstähle mehr geben. Aber in Ungarn haben wir ja Probleme mit dem Recht, denn diejenigen, die die Gesetze machen, sind selbst Diebe und stehlen viel mehr als der kleine Mann. Millionen und Abermillionen, und dafür werden sie nicht mal zur Rechenschaft gezogen. Wenn die Kinder von heute klug sind, dann hauen sie ab aus dieser Stadt, denn in zehn Jahren sind hier nur noch Zigeuner. Sie werden dann alle Rechte haben. Die Ungarn werden nur noch das Recht haben zu arbeiten und Sklaven sein."
So wie der Arbeiter aus der Pharmafabrik denken viele Menschen in Tiszavasvári. Der Frust hat sich lange aufgestaut in diesem unspektakulären Städtchen im Nordosten Ungarns, der ärmsten Region des Landes. 13.000 Einwohner hat der Ort und keine Touristenattraktionen. Früher arbeiteten im Pharmawerk 2000 Menschen – heute sind es noch 270. Auch sonst gibt es seit dem Zusammenbruch der Planwirtschaft und der anschließenden Privatisierung kaum noch Arbeitsplätze. Ein Fünftel der Einwohner von Tiszavasvári sind Roma. Sie leben, wie fast überall in der Region, in ghettoartigen Vierteln am Stadtrand, fast niemand von ihnen hat Arbeit. Sie seien kriminell, so heißt es pauschal über sie, auch wenn es dazu weder Belege noch Statistiken gibt. Weiteres Vorurteil: sie kassierten mehr Sozialhilfe und Kindergeld, als ein Ungar mit normaler Beschäftigung durchschnittlich verdiene. Die Realität: Während der Netto-Durchschnittslohn in Ungarn 470 Euro beträgt, muss eine fünfköpfige Roma-Familie mit 200 Euro weniger auskommen.
Das Thema "feindliche Einstellung gegenüber Roma" hat das Städtchen bei den Kommunalwahlen Anfang Oktober letzten Jahres berühmt gemacht. Erik Fülöp, der Bürgermeister-Kandidat der rechtsextremen Partei Jobbik, zu deutsch "Die Besseren", erreichte unter anderem mit Anti-Roma-Parolen auf Anhieb 53 Prozent der Stimmen. Das war selbst im Nordosten Ungarns, wo die Rechtsextremen im Schnitt auf bis zu 30 Prozent der Stimmen kamen, Rekord. Tiszavasvári wurde zur ersten - und bislang einzigen - Stadt Ungarns, in der die Rechtsextremen regieren.
Noch am Abend des Wahlsieges, dem 3. Oktober 2010, ruft der Jobbik-Parteichef Gábor Vona Tiszavasvári euphorisch zur – Zitat – "Hauptstadt unserer Partei" aus. Das Motto: Heute Tiszavasvári, morgen ganz Ungarn. Vona verspricht, der Ort werde bald eine von ihm so verstandene "ungarische Mustergemeinde" sein.
Der rechtsextreme Erfolg in Tiszavasvári ist kein Zufall. Hinter ihm steckt eine Vorgeschichte, die es in sich hat - und die auch Ungarn als Land radikal verändert hat. Es ist die Geschichte des Lynchmordes an Lajos Szögi, einem Lehrer aus Tiszavasvári. Im Oktober 2006 wurde er in dem nahegelegenen Dorf Olaszliszka vor den Augen seiner Töchter von einer Gruppe von Roma erschlagen, die ihn verdächtigte, ein kleines Roma-Mädchen mit seinem Auto überfahren zu haben – was sich später als Irrtum herausstellte.
Nach dem Mord kippte die gesellschaftliche Stimmung in Ungarn: Die Verachtung gegenüber den 800.000 Roma im Land, von denen viele unter menschenunwürdigen Umständen leben, wurde in weiten Teilen der Gesellschaft salonfähig. Die Jobbik-Partei erlebte einen deutlichen Zulauf und gewann bei der Parlamentswahl im April letzten Jahres 17 Prozent. Nordostungarn wurde zur Hochburg von Bürgerwehren und Neonazis, Tiszavasvári eines ihrer Zentren.
Im Rathaus von Tiszavasvári. Ein schmuckloser, graugelber 60er-Jahre-Bau, teilverklinkert, realsozialistisch-funktional. Im ersten Stock hat der Bürgermeister ein mittelgroßes Büro mit Abteilungsleitercharme. Topfpflanzen, massiver Schreibtisch, schwarze Ledercouchgarnitur, braune Anbauwand. Der Bürgermeister Erik Fülöp ist ein smarter Jurist, gerade einmal 29 Jahre alt, groß und stämmig. Er hat millimeterkurzes Haar und gute Manieren, aber nur wenig gute Worte übrig für die Roma.
"Die Zahl der Straftaten ist außerordentlich hoch. Das Zusammenleben mit der Zigeunergesellschaft ist sehr schwer, und genau deshalb gibt es sehr viele Konflikte zwischen den Ungarn und den Zigeunern. Ja, es gibt diese Zigeunerkriminalität. Hier in der Stadt gibt es Prostitution, ein Teil der Zigeuner beschäftigt sich mit Buntmetalldiebstahl, sie stehlen Holz im Wald, schicken ihre Kinder nicht in die Schule, sehr viele verleihen Geld zu Wucherzinsen. Wir hier in Tiszavasvári haben unseren Kopf nicht in den Sand gesteckt, sondern, wie das alle Lokalpolitiker unserer Partei im Land machen, die Probleme, die es mit der Zigeunergesellschaft gibt, offen angesprochen. Der Staat muss die Probleme lösen, statt die Rechte der Ungarn mit Füßen zu treten."
Ein knappes halbes Jahr ist Erik Fülöp jetzt im Amt. Martialische Aufmärsche gegen Roma und für ein "Ungarn der Ungarn" finden andernorts statt. Er marschiert nicht mehr, er regiert schon. Eine so genannte Stadtwache, der zehn Leute angehören, patroulliert abends und nachts durch den Ort, vor allem in den beiden Roma-Vierteln am Stadtrand. Man nennt das hier Abschreckung durch Präsenz, Verdächtiges wird der Polizei gemeldet. Prostitution ließ Fülöp in der Stadt verbieten, die Prostituierten, unter ihnen viele Roma-Frauen, stehen jetzt auf einem Parkplatz außerhalb der Stadt.
Zudem will Fülöp ein neues Sozialhilfe-System einführen: Die Empfänger würden dadurch künftig kaum noch oder kein Bargeld mehr bekommen, sondern Guthaben-Karten, mit denen sie nur noch bestimmte Waren in bestimmten Geschäften einkaufen dürften. Dadurch soll Druck auf die Roma ausgeübt werden, von Sozialarbeit hält Fülöp nichts, hart sein ist seine Devise. Der Bürgermeister spricht kühl, betonungs- und emotionslos, er sitzt ruhig da, gestikuliert nicht mit den Händen. Die Regungslosigkeit gibt seinen Worten etwas Bedrohliches.
"Wir nehmen den Kampf gegen alle abweichenden und nicht ins Gemeinschaftsleben passenden Verhaltensweisen auf. Man darf das Problem nicht mehr so angehen, dass jemand, wenn er Zigeuner ist, nur noch Rechte und keine Pflichten mehr hat. Wenn wir konsequent sind, dann können wir die gesamte Zigeunerschaft wirklich so verändern, dass sie endlich einmal ein nützliches Mitglied der ungarischen Gesellschaft wird."
Erik Fülöp hat die Bürgermeisterwahl nicht nur mit diesem Thema gewonnen. Er hat Bürgernähe versprochen, eine korrekte Stadtverwaltung und vor allem Arbeitsplätze. Tatsächlich schaffte der Stadtrat die Diäten seiner Mitglieder ab, Fülöp und sein Stellvertreter kürzten freiwillig ihre Gehälter. Es gibt wöchentliche Sprechstunden beim Bürgermeister, Zeichen, die gut ankommen bei vielen. Die Jobbik-Partei praktiziert diesen Politikstil in Ungarn flächendeckend: Ihre Aktivisten organisieren permanent bis in kleine Dörfer hinein Veranstaltungen, auf denen Einwohner ihre Sorgen loswerden können, sie unterstützen Bedürftige, helfen nach Naturkatastrophen oder organisieren Volksfeste. Geschickte Bauernfängerei der Rechtsextremen, sagen ihre Gegner dazu.
Jobbik-Fernsehwahlwerbung vom letzten Herbst. Im Bild ein Handwerker, ein Bauer, ein Mädchen, das auf der Straße verfolgt wird. Sie sagen Sätze wie: "Dürfen die Banken und die multinationalen Konzerne sich alles erlauben?! Dürfen die Zigeunerkriminellen sich alles erlauben?!" Das Summen einer Stechmücke ertönt. Der Jobbik-Parteichef Gábor Vona tritt auf. Er klatscht die Mücke auf seiner Hand tot und sagt: "Wir haben genug von den Parasiten."
Die Parasiten, die das ungarische Volk aussaugen. Diese rechtsextreme Parole gehört seit Jahren zu den Hauptversatzstücken der Jobbik-Propaganda. Und sie zielt auch und vor allem auf die Roma.
In Tiszavasvári leben die meisten Roma in der Széles-Straße, am Stadtrand. Eine ghettoartige Ansammlung von Häusern schlechter Bauqualität und Ausstattung, errichtet noch zu kommunistischen Zeiten speziell für Roma. Inzwischen sind die meisten Häuser baufällig, überall liegt Müll herum. Junge Männer und Frauen in zerschlissener Kleidung stehen in Gruppen vor den Hütten, rauchen, unterhalten sich gestikulierend, eine Frau schlendert auf der Schotterstraße, die durch die Siedlung führt, mit einen kleinen Bündel Reisig auf dem Rücken zu ihrem Haus. Der 46-jährige Mihály Lakatos schiebt sein klappriges Fahrrad den Weg entlang, er hat kaum noch Zähne, Draht hält sein Brillengestell zusammen. Vor dem neuen Bürgermeister fürchtet er sich.
"Vor kurzem hat die Polizei drei Leute mitgenommen. Sie haben da drüben auf dem Acker trockene Sträucher gesammelt, und dafür wurden sie 72 Stunden lang festgenommen. Warum gibt der Bürgermeister denen, die gar keine Unterstützung bekommen, kein Brennholz?! Es gibt hier einige Familien, die haben drei, vier Kinder und fast gar kein Geld, wovon sollen die Holz kaufen? Sie gehen eben in den Wald und stehlen Holz."
Ein anderer Mann drängt Lakatos beseite. Er trägt eine alte, schwarze Lederjacke und hebt die Arme beschwörend gen Himmel.
"Wir dürfen nach um sechs Uhr abends nicht mehr in die Stadt. Und wenn ein Kind krank wird oder wir irgendein Problem haben?! Nur weil unsere Haut dunkel ist?! Die Jobbik-Parteileute haben gesagt, wenn sie uns nach sechs erwischen, verprügeln sie uns zusammen mit der Polizei."
Aussage steht hier gegen Aussage. Denn dass es so eine Ausgangssperre für Roma gebe, bestreiten sowohl Bürgermeister als auch Polizei.
In der Grund- und Mittelschule, eine Viertelstunde Fußweg von der Roma-Siedlung entfernt. Die Direktorin Erika Lévai hört im Klassenraum der 2c den Kindern zu und beglückwünscht die Zweitklässler zu ihrer guten Leistung. Die 50-jährige Pädagogin hat fast ihr ganzes Berufsleben lang mit Roma-Kindern gearbeitet, sie ist Angestellte der ungarischen Magiszter-Stiftung, die sich um die Bildung sozial benachteiligter Kinder kümmert. Vor zwei Jahren hat die Stiftung diese Grund- und Mittelschule mit angeschlossenem Kindergarten übernommen. Die Direktorin ist eine ebenso resolute wie warmherzige Frau. Auf ihre Schule gehen nur Roma-Kinder. Fragen nach dem Rechtsextremismus in der Stadt, nach dem Bürgermeister, nach dem Rassismus in seiner Partei wehrt sie ab. Die Stiftung, für die sie arbeitet, legt Wert auf parteipolitische Neutralität, und Erika Lévai möchte ihre Arbeit nicht gefährden.
"Wir müssen mit der jeweiligen Stadtführung, egal welcher Partei sie angehört, zusammenarbeiten. Das liegt natürlich auch in ihrem ureigensten Interesse. Denn eines ist doch klar: Es geht an unserer Schule um Kinder mit Eltern, die kaum Bildung haben und in so gut wie allen Fällen arbeitslos sind. Das bringt Probleme mit sich, auf die man eine Antwort finden muss. Sicherlich gibt es hier im Ort scharfe Gegensätze zwischen den Roma und den Ungarn. Das ist in der Gesellschaft tief verwurzelt, und ich weiß ganz ehrlich nicht, wie man das ändern könnte. Ich persönlich kann nur sagen, ich mag keine Generalisierungen. Seit Jahren spricht man zum Beispiel über Zigeunerkriminalität. Genauso gut könnte man über die Kriminalität der Ungarn oder jeder anderen Nation sprechen. Ich denke, es gibt einfach Kriminalität, und die muss man immer im Einzelfall und gemäß geltender Gesetze be- und verurteilen."
"Ich sollte es nicht so drastisch sagen, aber die Zigeuner sind einfach Ungeziefer. Ich würde es hier machen wie in Amerika: Kommen sie bei einem durch die Pforte, einfach abknallen. Dann würde es keine Diebstähle mehr geben. Aber in Ungarn haben wir ja Probleme mit dem Recht, denn diejenigen, die die Gesetze machen, sind selbst Diebe und stehlen viel mehr als der kleine Mann. Millionen und Abermillionen, und dafür werden sie nicht mal zur Rechenschaft gezogen. Wenn die Kinder von heute klug sind, dann hauen sie ab aus dieser Stadt, denn in zehn Jahren sind hier nur noch Zigeuner. Sie werden dann alle Rechte haben. Die Ungarn werden nur noch das Recht haben zu arbeiten und Sklaven sein."
So wie der Arbeiter aus der Pharmafabrik denken viele Menschen in Tiszavasvári. Der Frust hat sich lange aufgestaut in diesem unspektakulären Städtchen im Nordosten Ungarns, der ärmsten Region des Landes. 13.000 Einwohner hat der Ort und keine Touristenattraktionen. Früher arbeiteten im Pharmawerk 2000 Menschen – heute sind es noch 270. Auch sonst gibt es seit dem Zusammenbruch der Planwirtschaft und der anschließenden Privatisierung kaum noch Arbeitsplätze. Ein Fünftel der Einwohner von Tiszavasvári sind Roma. Sie leben, wie fast überall in der Region, in ghettoartigen Vierteln am Stadtrand, fast niemand von ihnen hat Arbeit. Sie seien kriminell, so heißt es pauschal über sie, auch wenn es dazu weder Belege noch Statistiken gibt. Weiteres Vorurteil: sie kassierten mehr Sozialhilfe und Kindergeld, als ein Ungar mit normaler Beschäftigung durchschnittlich verdiene. Die Realität: Während der Netto-Durchschnittslohn in Ungarn 470 Euro beträgt, muss eine fünfköpfige Roma-Familie mit 200 Euro weniger auskommen.
Das Thema "feindliche Einstellung gegenüber Roma" hat das Städtchen bei den Kommunalwahlen Anfang Oktober letzten Jahres berühmt gemacht. Erik Fülöp, der Bürgermeister-Kandidat der rechtsextremen Partei Jobbik, zu deutsch "Die Besseren", erreichte unter anderem mit Anti-Roma-Parolen auf Anhieb 53 Prozent der Stimmen. Das war selbst im Nordosten Ungarns, wo die Rechtsextremen im Schnitt auf bis zu 30 Prozent der Stimmen kamen, Rekord. Tiszavasvári wurde zur ersten - und bislang einzigen - Stadt Ungarns, in der die Rechtsextremen regieren.
Noch am Abend des Wahlsieges, dem 3. Oktober 2010, ruft der Jobbik-Parteichef Gábor Vona Tiszavasvári euphorisch zur – Zitat – "Hauptstadt unserer Partei" aus. Das Motto: Heute Tiszavasvári, morgen ganz Ungarn. Vona verspricht, der Ort werde bald eine von ihm so verstandene "ungarische Mustergemeinde" sein.
Der rechtsextreme Erfolg in Tiszavasvári ist kein Zufall. Hinter ihm steckt eine Vorgeschichte, die es in sich hat - und die auch Ungarn als Land radikal verändert hat. Es ist die Geschichte des Lynchmordes an Lajos Szögi, einem Lehrer aus Tiszavasvári. Im Oktober 2006 wurde er in dem nahegelegenen Dorf Olaszliszka vor den Augen seiner Töchter von einer Gruppe von Roma erschlagen, die ihn verdächtigte, ein kleines Roma-Mädchen mit seinem Auto überfahren zu haben – was sich später als Irrtum herausstellte.
Nach dem Mord kippte die gesellschaftliche Stimmung in Ungarn: Die Verachtung gegenüber den 800.000 Roma im Land, von denen viele unter menschenunwürdigen Umständen leben, wurde in weiten Teilen der Gesellschaft salonfähig. Die Jobbik-Partei erlebte einen deutlichen Zulauf und gewann bei der Parlamentswahl im April letzten Jahres 17 Prozent. Nordostungarn wurde zur Hochburg von Bürgerwehren und Neonazis, Tiszavasvári eines ihrer Zentren.
Im Rathaus von Tiszavasvári. Ein schmuckloser, graugelber 60er-Jahre-Bau, teilverklinkert, realsozialistisch-funktional. Im ersten Stock hat der Bürgermeister ein mittelgroßes Büro mit Abteilungsleitercharme. Topfpflanzen, massiver Schreibtisch, schwarze Ledercouchgarnitur, braune Anbauwand. Der Bürgermeister Erik Fülöp ist ein smarter Jurist, gerade einmal 29 Jahre alt, groß und stämmig. Er hat millimeterkurzes Haar und gute Manieren, aber nur wenig gute Worte übrig für die Roma.
"Die Zahl der Straftaten ist außerordentlich hoch. Das Zusammenleben mit der Zigeunergesellschaft ist sehr schwer, und genau deshalb gibt es sehr viele Konflikte zwischen den Ungarn und den Zigeunern. Ja, es gibt diese Zigeunerkriminalität. Hier in der Stadt gibt es Prostitution, ein Teil der Zigeuner beschäftigt sich mit Buntmetalldiebstahl, sie stehlen Holz im Wald, schicken ihre Kinder nicht in die Schule, sehr viele verleihen Geld zu Wucherzinsen. Wir hier in Tiszavasvári haben unseren Kopf nicht in den Sand gesteckt, sondern, wie das alle Lokalpolitiker unserer Partei im Land machen, die Probleme, die es mit der Zigeunergesellschaft gibt, offen angesprochen. Der Staat muss die Probleme lösen, statt die Rechte der Ungarn mit Füßen zu treten."
Ein knappes halbes Jahr ist Erik Fülöp jetzt im Amt. Martialische Aufmärsche gegen Roma und für ein "Ungarn der Ungarn" finden andernorts statt. Er marschiert nicht mehr, er regiert schon. Eine so genannte Stadtwache, der zehn Leute angehören, patroulliert abends und nachts durch den Ort, vor allem in den beiden Roma-Vierteln am Stadtrand. Man nennt das hier Abschreckung durch Präsenz, Verdächtiges wird der Polizei gemeldet. Prostitution ließ Fülöp in der Stadt verbieten, die Prostituierten, unter ihnen viele Roma-Frauen, stehen jetzt auf einem Parkplatz außerhalb der Stadt.
Zudem will Fülöp ein neues Sozialhilfe-System einführen: Die Empfänger würden dadurch künftig kaum noch oder kein Bargeld mehr bekommen, sondern Guthaben-Karten, mit denen sie nur noch bestimmte Waren in bestimmten Geschäften einkaufen dürften. Dadurch soll Druck auf die Roma ausgeübt werden, von Sozialarbeit hält Fülöp nichts, hart sein ist seine Devise. Der Bürgermeister spricht kühl, betonungs- und emotionslos, er sitzt ruhig da, gestikuliert nicht mit den Händen. Die Regungslosigkeit gibt seinen Worten etwas Bedrohliches.
"Wir nehmen den Kampf gegen alle abweichenden und nicht ins Gemeinschaftsleben passenden Verhaltensweisen auf. Man darf das Problem nicht mehr so angehen, dass jemand, wenn er Zigeuner ist, nur noch Rechte und keine Pflichten mehr hat. Wenn wir konsequent sind, dann können wir die gesamte Zigeunerschaft wirklich so verändern, dass sie endlich einmal ein nützliches Mitglied der ungarischen Gesellschaft wird."
Erik Fülöp hat die Bürgermeisterwahl nicht nur mit diesem Thema gewonnen. Er hat Bürgernähe versprochen, eine korrekte Stadtverwaltung und vor allem Arbeitsplätze. Tatsächlich schaffte der Stadtrat die Diäten seiner Mitglieder ab, Fülöp und sein Stellvertreter kürzten freiwillig ihre Gehälter. Es gibt wöchentliche Sprechstunden beim Bürgermeister, Zeichen, die gut ankommen bei vielen. Die Jobbik-Partei praktiziert diesen Politikstil in Ungarn flächendeckend: Ihre Aktivisten organisieren permanent bis in kleine Dörfer hinein Veranstaltungen, auf denen Einwohner ihre Sorgen loswerden können, sie unterstützen Bedürftige, helfen nach Naturkatastrophen oder organisieren Volksfeste. Geschickte Bauernfängerei der Rechtsextremen, sagen ihre Gegner dazu.
Jobbik-Fernsehwahlwerbung vom letzten Herbst. Im Bild ein Handwerker, ein Bauer, ein Mädchen, das auf der Straße verfolgt wird. Sie sagen Sätze wie: "Dürfen die Banken und die multinationalen Konzerne sich alles erlauben?! Dürfen die Zigeunerkriminellen sich alles erlauben?!" Das Summen einer Stechmücke ertönt. Der Jobbik-Parteichef Gábor Vona tritt auf. Er klatscht die Mücke auf seiner Hand tot und sagt: "Wir haben genug von den Parasiten."
Die Parasiten, die das ungarische Volk aussaugen. Diese rechtsextreme Parole gehört seit Jahren zu den Hauptversatzstücken der Jobbik-Propaganda. Und sie zielt auch und vor allem auf die Roma.
In Tiszavasvári leben die meisten Roma in der Széles-Straße, am Stadtrand. Eine ghettoartige Ansammlung von Häusern schlechter Bauqualität und Ausstattung, errichtet noch zu kommunistischen Zeiten speziell für Roma. Inzwischen sind die meisten Häuser baufällig, überall liegt Müll herum. Junge Männer und Frauen in zerschlissener Kleidung stehen in Gruppen vor den Hütten, rauchen, unterhalten sich gestikulierend, eine Frau schlendert auf der Schotterstraße, die durch die Siedlung führt, mit einen kleinen Bündel Reisig auf dem Rücken zu ihrem Haus. Der 46-jährige Mihály Lakatos schiebt sein klappriges Fahrrad den Weg entlang, er hat kaum noch Zähne, Draht hält sein Brillengestell zusammen. Vor dem neuen Bürgermeister fürchtet er sich.
"Vor kurzem hat die Polizei drei Leute mitgenommen. Sie haben da drüben auf dem Acker trockene Sträucher gesammelt, und dafür wurden sie 72 Stunden lang festgenommen. Warum gibt der Bürgermeister denen, die gar keine Unterstützung bekommen, kein Brennholz?! Es gibt hier einige Familien, die haben drei, vier Kinder und fast gar kein Geld, wovon sollen die Holz kaufen? Sie gehen eben in den Wald und stehlen Holz."
Ein anderer Mann drängt Lakatos beseite. Er trägt eine alte, schwarze Lederjacke und hebt die Arme beschwörend gen Himmel.
"Wir dürfen nach um sechs Uhr abends nicht mehr in die Stadt. Und wenn ein Kind krank wird oder wir irgendein Problem haben?! Nur weil unsere Haut dunkel ist?! Die Jobbik-Parteileute haben gesagt, wenn sie uns nach sechs erwischen, verprügeln sie uns zusammen mit der Polizei."
Aussage steht hier gegen Aussage. Denn dass es so eine Ausgangssperre für Roma gebe, bestreiten sowohl Bürgermeister als auch Polizei.
In der Grund- und Mittelschule, eine Viertelstunde Fußweg von der Roma-Siedlung entfernt. Die Direktorin Erika Lévai hört im Klassenraum der 2c den Kindern zu und beglückwünscht die Zweitklässler zu ihrer guten Leistung. Die 50-jährige Pädagogin hat fast ihr ganzes Berufsleben lang mit Roma-Kindern gearbeitet, sie ist Angestellte der ungarischen Magiszter-Stiftung, die sich um die Bildung sozial benachteiligter Kinder kümmert. Vor zwei Jahren hat die Stiftung diese Grund- und Mittelschule mit angeschlossenem Kindergarten übernommen. Die Direktorin ist eine ebenso resolute wie warmherzige Frau. Auf ihre Schule gehen nur Roma-Kinder. Fragen nach dem Rechtsextremismus in der Stadt, nach dem Bürgermeister, nach dem Rassismus in seiner Partei wehrt sie ab. Die Stiftung, für die sie arbeitet, legt Wert auf parteipolitische Neutralität, und Erika Lévai möchte ihre Arbeit nicht gefährden.
"Wir müssen mit der jeweiligen Stadtführung, egal welcher Partei sie angehört, zusammenarbeiten. Das liegt natürlich auch in ihrem ureigensten Interesse. Denn eines ist doch klar: Es geht an unserer Schule um Kinder mit Eltern, die kaum Bildung haben und in so gut wie allen Fällen arbeitslos sind. Das bringt Probleme mit sich, auf die man eine Antwort finden muss. Sicherlich gibt es hier im Ort scharfe Gegensätze zwischen den Roma und den Ungarn. Das ist in der Gesellschaft tief verwurzelt, und ich weiß ganz ehrlich nicht, wie man das ändern könnte. Ich persönlich kann nur sagen, ich mag keine Generalisierungen. Seit Jahren spricht man zum Beispiel über Zigeunerkriminalität. Genauso gut könnte man über die Kriminalität der Ungarn oder jeder anderen Nation sprechen. Ich denke, es gibt einfach Kriminalität, und die muss man immer im Einzelfall und gemäß geltender Gesetze be- und verurteilen."