Paul Auster: "Bericht aus dem Inneren"
Aus dem Englischen von Werner Schmitz
Rowohlt Verlag, Berlin 2014
360 Seite, 19.95 Euro
Als die Scheren gehen konnten
Paul Auster ist einer der profiliertesten US-amerikanischen Schriftsteller. In seinem Buch "Bericht aus dem Inneren" führt der mittlerweile 67-Jährige die Leser in seine frühe Kindheit - in das Zuhause der Wörter.
Er gebe nicht gern Interviews, schreibt Paul Auster in einem Brief an seinen Freund John M. Coetzee. Vielleicht aus Überdruss, immer von sich selbst reden zu müssen. Ein erstaunlicher Satz für einen Mann, der nicht nur für Romane und Novellen berühmt wurde, sondern auch für poetische Selbstbefragungen, mit denen er immer wieder sein Sein und Werden erkundete. So, wie er es in seinem neuesten Buch erneut tut. "Bericht aus dem Inneren" heißt es. Auster betrachtet staunend und voller Freude das Kind und ein wenig zögernd den Jüngling, der er war.
Das Kind ist Auster fraglos näher, und eigentlich hat er vor, nur bis zum zwölften Lebensjahr zu erzählen. Doch dann schickt ihm Lydia Davis, seine erste große Liebe, 100 Briefe, die er ihr vor vielen Jahrzehnten schrieb. Und er kann der Versuchung nicht widerstehen, im zweiten Teil des Bandes aus diesen Episteln des darbenden, dichtenden, taumelnden, schwermütigen Studenten, den die Proteste gegen den Vietnamkrieg vor einem Nervenzusammenbruch retteten, viel zu ausführlich zu zitieren.
Fantasiereich der Kindheit
Bleiben wir im Kinderhirn. Schon der erste Satz des Buches verzaubert und wirft den Leser hinein in Austers Vergangenheit und die eigene. Am Anfang sei alles lebendig gewesen, schreibt er, die kleinsten Gegenstände hätten pochende Herzen und die Wolken Namen besessen, Scheren konnten gehen, Steine denken und Gott sei überall gewesen. Glück und Melancholie in einem Absatz - denn nichts bleibt, wie es ist. Und doch wehrt Auster sich gegen die gänzliche Vertreibung aus dem Fantasiereich der Kindheit. Für ihn sei ein Korkenzieher immer noch eine tanzende Ballerina.
Und dann reisen wir mit Paul Auster, 1947 in Newark, New Jersey, geboren, ins Amerika der 50er-Jahre. Vater, Mutter, Schwester, Dreirad, Radio, Fernseher, alsbald ein Haus in der Vorstadt: Mittelschicht. Erst sind Cowboys, dann Baseballspieler seine Helden. Paul ist ein richtiger kleiner Amerikaner. Bis er merkt, dass er Jude ist, also anders. Und zu ahnen beginnt, dass sein Land nicht wirklich seine Heimat ist.
Spannende Kindheitsprägungen
Zuhause gibt es kaum Bücher, keiner liest den Kindern vor. Eine kaputte Familie. Die feinnervige Schwester verfällt später dem Wahnsinn. Paul liest, verschlingt schon mit neun Jahren auch Literatur, die er nicht versteht. Die Familie, resümiert er, ließ ihn zu jenem Mann werden, der den größten Teil seines Lebens allein in einem Zimmer verbracht hat. Ab und zu darf das Kind ins Kino. Seitenlang erzählt Auster uns Filme nach und zugleich von sich als aufgeregt zitterndem, kleinem Zuschauer. Besser und bannender kann man wohl Kindheitsprägungen nicht beschreiben, wie Auster es hier tut.
Er erschreibt sich in diesem Buch ein Zuhause, das Zuhause der Worte. Entspannte Sätze, gänzlich unprätentiöses Erzählen locken in diesen Text hinein. Da es kaum Fotos gibt vom Kind Paul, keine Zeugnisse und keine Briefe, hat Auster diese Leere nicht nur mit Worten gefüllt, sondern auch mit über 100 Aufnahmen, die er als Erwachsener zusammengetragen hat, so, als habe er das fehlende Familienalbum ersetzen wollen.