Eberhard Rathgeb: "Das Paradiesghetto"
Hanser Verlag, München 2014
235 Seiten, 18,90 Euro
Besessene Selbstgespräche
Der Roman "Das Paradiesghetto" von Eberhard Rathgeb besteht aus Monologen einer Sterbenden. Das aggressive Gerede der 81-jährigen Eliza, die auch alle Gegenreden selbst hält, ist ein einziger Vorwurf an das Glück.
Wenn jemand heute auf Deutsch von Familie erzählt, und das ist keine jüdische Familie, dann kreist das Erzählen immer um einen Glutkern: Was haben die Leute in der Nazizeit getan oder gelassen. Das kann gar nicht anders sein. Zur Zeit wird häufig von Familie erzählt. Die Frage "War Opa Nazi?" enthält vielleicht (gegenüber den Eltern) das Quäntchen mehr an emotionaler Distanz, das man braucht, um überhaupt erzählen zu können.
In solchen Romanen rechnet zumeist eine jüngere Generation mit Eltern oder Großeltern ab – mehr oder weniger verdruckst, selbstmitleidig oder hasserfüllt. Auch das kann nicht anders sein. Denn was da glüht und kaum an Hitze verliert, ist die unter allem lauernde Frage: Wie "fähig zum Täter, wie nahe an Auschwitz" wäre meine Generation, wäre eigentlich ich selbst?
Monologe einer Sterbenden
Eberhard Rathgeb geht umgekehrt vor. "Das Paradiesghetto" sind Monologe einer 81-jährigen sterbenden Mutter, die sich im Unglück häuslich eingerichtet hat, weil sie alles Glücklichsein verachtet.
Eliza ist etwa 1930 in Berlin geboren, aber als Kind mit den Eltern nach Buenos Aires gezogen. Der Vater hatte dort eine leitende Position in einer deutschen Firma und traf sich oft mit anderen höheren Tieren, die Familie lebte mit vier Töchtern im Luxus und dann plötzlich nicht mehr. 1961 zieht Eliza in die süddeutsche Provinz. Ihr Mann, auch deutschstämmig, liebt Deutschland. Sie nicht, sie fremdelt, sie friert hier ständig. Inzwischen führt sie ein einsames ritualisiertes Leben mit einem Hund, der dreimal täglich nach draußen muss. Ihr Mann ist lange tot, ihre vier Töchter sind aus dem Haus, die sind auch sowieso nur hinter dem Glück her und lesen keine Bücher; sie selbst wird immer dürrer, sie isst kaum noch.
Tiraden voller Aggression
Sie frisst Bücher. Bücher über die Judenvernichtung. Sie ist besessen davon. Vor allem von Eichmann. Hat der vielleicht zum Bekanntenkreis des Vaters gehört? Die Frage zieht sich wie ein fahler Gifthauch durch Elizas Selbstgespräche, erweist sich aber als Spannungstrick – für die Leser. Denn Elizas Monologe enthalten eine andere, viel bösere Spannung. Es sind obsessive Dialoge – mit den Verstorbenen (Mann, Vater, Mutter) und Lebenden (Töchter, Schwestern), die alle namenlos bleiben. Eine Tirade aus aggressiver Selbstgerechtigkeit und eisiger Indolenz, ein endloser Double-Bind aus rhetorischen Schleifen: "Ich mache dir keine Vorwürfe" und "Ich beschwere mich nicht". Elizas Gerede, bei dem sie auch alle Gegenreden selbst hält, ist ein einziger Vorwurf an das Glück.
Man schwankt beim Lesen ständig zwischen fasziniertem Mitleid und unbändigem Hass auf diese Figur und kommt ihr mit beidem nicht bei. Bis klar wird, was der Roman eigentlich verhandelt: Selbstkasteiung durch Glücksverweigerung und Unglücklichsein als heimliche Glücksproduktion, legitimiert durch ein Auschwitz, das man selbst nie erleiden würde. Eine gespenstische gojische Variation auf das bittere jüdische Bonmot: "Auschwitz werden uns die Deutschen nie verzeihen." Ein Glutkern, dessen tiefe heutige Wahrheit das Blut in den Adern gefrieren lässt.