Philipp Schwenke: "Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste"
Kiepenheuer und Witsch, Köln 2018
600 Seiten, 20 Euro
Als Karl May die Wahrheit in die Quere kam
Als die größte Geschichte von Selbstüberschätzung beschreibt Autor Philipp Schwenke das Leben und Schaffen von Karl May. In seinem Roman "Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste" begleitet er den Old-Shatterhand-Erfinder auf die Reise in den Orient.
Frank Meyer: Der Großschriftsteller Karl May, der konnte bekanntlich seine Gegner mit den bloßen Fäusten niederstrecken und sagenhaft gut schießen und 800 Sprachen sprechen und, und, und. Ein Teufelskerl. Und wenn das auch alles erfunden war, erfinden konnte Karl May wirklich hervorragend. Wie ihm dann doch die ärgerlich banale Wahrheit in die Quere kam, davon erzählt der Karl-May-Roman "Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste" von Philipp Schwenke, und der ist jetzt hier bei uns im Studio. Seien Sie willkommen!
Philipp Schwenke: Guten Morgen!
Meyer: Sie danken am Ende Ihres Romans unter anderem Ihrem Vater, der Ihnen früher immer Karl May vorgelesen hat. Sie sind also schon lange Karl-May-Fan?
Schwenke: Ja, ich habe eine wahrscheinlich sehr typische Karl-May-Biografie. Ich bin aufgewachsen mit den Geschichten, wie gesagt, vorgelesen wurde uns viel, als wir Kinder waren. Ich hab diese Hörspiele geliebt, ich kannte die Filme, ich hab ihn, als ich dann selbst lesen konnte, auch selbst gelesen, und hab ihn dann aber tatsächlich auch sehr lange aus den Augen verloren. Ich glaube, das letzte Mal, dass ich mit ihm beschäftigt habe, das war bei den Karl-May-Festspielen 1991 in Bad Segeberg, und dann gab es eine …
Meyer: Das ist eine sehr, sehr lange Lücke.
Schwenke: Bis ungefähr 2013.
Meyer: Haben Sie denn als Kind geglaubt, dass er das selbst erlebt hat?
Schwenke: Ich wusste das schon immer, dass er behauptet hat, dass diese Abenteuer wahr seien und dass sie es natürlich nicht waren. Das hatte ich sehr tief in meinem Unterbewusstsein gespeichert, darüber hinaus aber nicht so wahnsinnig viel.
Karl May: "ein wahnsinnig komplexer Charakter"
Meyer: Das ist ja heute eigentlich Allgemeinwissen, dass Karl May nicht dieser weltläufige, bärenstarke Held war, so wie er das hat aussehen lassen. Warum wollten Sie jetzt trotzdem einen Roman über den Täuscher Karl May schreiben?
Schwenke: Weil er so ein wahnsinnig komplexer Charakter ist. Ich bin zufällig über dieses Thema gestolpert. Ich glaube immer, dass Ideen quasi Dominosteine sind, die ineinander fallen. Und der erste Dominostein bei mir war, dass ich ein sehr großer Fan der Coen-Brothers bin, die Filmemacher, die unter anderem "The Big Lebowski" gemacht haben. Und die haben das mal sehr schön erklärt, dass ihre Lieblingsfigur der Mann ist, der sich selbst überschätzt, weil sie sagen, es gibt wenig, was eine größere Fallhöhe hat als Männer, die sich selbst überschätzen.
Zum Zweiten hatte ich dann vor einigen Jahren, so um 2012 herum, schon an einem anderen Roman gearbeitet, das funktionierte aber nicht so richtig, und dann habe ich zufällig, weil 2012 Karl Mays Todesjahr war, ein Radiofeature über ihn gehört, über seine letzten Lebensjahre, und hatte gemerkt, irgendwie ist da ein Stoff. Und nachdem ich mich dann ein bisschen mit seinen letzten Jahren beschäftigt habe, bin ich eben über diese Orientreise gestolpert, wo er dann, nachdem er jahrelang behauptet hat, all diese Abenteuer seien wahr und er selbst sei Old Shatterhand, das erste Mal wirklich auf Reisen gegangen ist.
Und ohne dass ich wusste, was passiert ist, und ohne, dass ich eine konkrete Idee schon hatte, wie dieser Roman aussehen konnte, wusste ich, das ist die größte und fantastischste Geschichte von Selbstüberschätzung, die man sich vorstellen kann. Da steckt so viel Tragik drin, und da steckt so viel Komik drin, da muss man was draus machen.
Meyer: Da ist sich Karl May ja in gewisser Weise selbst untreu geworden, als er dann wirklich mal Sachsen verlassen hat und in die Welt hinausgefahren ist, zum ersten Mal 1899. Was hat ihn denn damals dazu gebracht?
Schwenke: Ein Strauß von Motiven. Zum einen, er konnte es sich das erste Mal in seinem Leben wirklich leisten. Er hätte solche Reisen sicher auch gern 30 Jahre früher gemacht, da war er aber ein verarmter, gescheiterter, im Gefängnis gesessener ehemaliger Lehrer – das konnte er natürlich nicht machen. Dann hatte er einfach das Problem, dass 1899, nachdem er zehn Jahre ungefähr diese Fiktion aufrechterhalten hat, dass er Old Shatterhand sei, so langsam sich andeutete, dass das möglicherweise nicht sein könnte, und so langsam deutete sich auch für ihn an, dass dieser Schwindel auffliegen könnte.
Postkarten aus Kairo Zeugnis der Echtheit der Abenteuer
Und deswegen war so die unmittelbarste Motivation für ihn, auf Reisen zu gehen, einfach, um unterwegs Postkarten zu schreiben, um zu beweisen zu können, ich bin ja weg, ich schreibe Ihnen hier aus Jerusalem und Kairo und so weiter, und natürlich sind alle meine Abenteuer wahr, weil ich ja offensichtlich gerade in diesen Ländern unterwegs bin.
Meyer: Jetzt geht er auf Reisen, und in Ihrem Roman stellen Sie das so dar, dass die wirkliche Fremde für ihn dann doch eine große Enttäuschung war. Warum war denn der Orient für ihn so eine Enttäuschung?
Schwenke: Der Orient – er hat ihn sich zum einen ein bisschen anders vorgestellt. Er war schon immer sehr nah dran an dem, was man in dieser Zeit über die Fremde, den Orient wusste, musste dann aber realisieren, dass diese wilde Landschaft, die er sich vorgestellt hat, mittlerweile vom Kolonialismus durchzogen war, verwaltet von Briten und Franzosen. Und das osmanische Reich bröckelte so gerade, der Einfluss nahm ab.
Und diese Wildheit, die er sich vorgestellt hat, die wilden Wüstenstämme, die mit ihm reiten und so weiter, da ist er natürlich als Tourist von 57 Jahren überhaupt nicht mehr rangekommen. Er ist mit einem Baedeker-Reiseführer in der Hand von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit gefahren, hat in sehr komfortablen Hotels übernachtet, hat, wo es ging, sehr komfortable Züge genommen und hatte sich eben auch selbst wahnsinnig weit von dieser Fiktion Old Shatterhand entfernt.
Meyer: War das dann auch die große Enttäuschung, von der Sie auch schreiben in Ihrem Roman, dass Karl May am maßlosesten eigentlich von sich selbst enttäuscht wurde, dass er eben nicht als wilder Wüstenkrieger unterwegs war, sondern auf weiche Daunen gebettet?
Schwenke: Das war sicherlich so. Was bei Karl May immer ein bisschen schwer festzustellen ist, er ist sich zumindest zeitweise selbst auf den Leim gegangen. Er hat also diese Fiktion zumindest zeitweise selbst geglaubt. Es ist wahnsinnig schwer, das zu quantifizieren. Es ist eigentlich unmöglich zu sagen, hat er das zwischendurch mal eine halbe Stunde gedacht, oder ist er wirklich zehn Jahre lang wirklich mit dem Gedanken durch die Welt gelaufen, ich bin dieser Held?
"Karl May war ein wahnsinniger Narzisst"
Aber er hat sich das schon gern abgenommen, weil diese Fiktion des starken Helden, der 800 Sprachen spricht und Leute mit einem Fausthieb umhaut, das war für ihn eine Art, mit sich selbst umgehen zu lernen. Karl May war ein wahnsinniger Narzisst, und man kann sich vorstellen, ein eigentlich ganz kleines, armes Kind, das dann zum erwachsenen Mann geworden ist und immer noch ein schwarzes Loch von Angst und der Sucht nach Zuneigung in sich trug. Und dieses schwarze Loch hat er gestopft mit der Bewunderung seiner Leser und eben dieser großen Selbstfiktion, ich bin der stärkste Superheld.
Meyer: Und wenn er diese Enttäuschung erlebt hat im Orient angesichts der Orte, die er durchreiste, und von sich selbst, hat er danach eigentlich noch weitermachen können mit seinen Autofiktionen?
Schwenke: Diese Reise war für ihn ein Wendepunkt, weil während er unterwegs war, tatsächlich in Deutschland die ersten Artikel erschienen sind, die sehr deutlich angezweifelt haben, dass diese Geschichten alle wahr sind. Für ihn war das ein Schock. Er hat die Entwicklung auch vollkommen unterschätzt. Er war Tausende Kilometer von zu Hause, und musste aber irgendwie darauf reagieren, und hat dann aus dem Orient zunächst mal einige Verteidigungsschriften verfasst, bei denen er davon ausging, dass damit das Problem erledigt wäre.
Als er dann aber zurückkam, musste er feststellen, das Problem ist mitnichten erledigt, die Welle, die da losgetreten wurde, die Welle der Karl-May-Kritik wurde einfach höher und höher, und er musste so langsam sich selbst von dieser Fiktion verabschieden, und er musste auch öffentlich langsam zurückrudern. Er ist nie an den Punkt gekommen, wo er wirklich gesagt hätte, ja, ich habe gelogen, und das stimmt alles nicht. Aber er hat sich so langsam an die Wahrheit heranschlawinert.
Meyer: "Heranschlawinert" ist ein schönes Stichwort für eine andere Geschichte, die Sie auch noch erzählen, die auch in diese Zeit einfach mit hineingehört bei Karl May. Eine höchst merkwürdige Dreiecksliebesgeschichte. Er ist selbst verstrickt natürlich, seine Frau, die Witwe seines besten Freundes. Wer hat denn da wen wie begehrt?
Schwenke: Jeder jeden tatsächlich. Diese Geschichte, die stimmt auch. Ich habe mir das nicht ausgedacht.
Meyer: Das wäre meine nächste Frage gewesen.
Dreiecksbeziehung mit zwei Frauen
Schwenke: Es sind Fakten, über die ich dann im Lauf der Recherche gestolpert bin. Die letzte Etappe seiner Reise hat Karl May nicht allein gemacht, sondern mit seiner Frau, seinem besten Freund und der Frau dieses besten Freundes. Und sein bester Freund ist ein halbes Jahr, nachdem sie zurückgekommen sind, leider an einer Krankheit gestorben, woraufhin Karl sich in die Witwe verliebt hat, ohne allerdings zu ahnen, dass diese Witwe schon seit einer ganzen Zeit eine Affäre mit seiner eigenen Frau hat.
Und diese Dreiecksbeziehung, die gab es tatsächlich. Und wie sie ausgeht, ich will es jetzt nicht verraten, es steht ja im Buch drin. Wenn Sie ganz neugierig sind, kann man es auch im Internet nachlesen. Aber wenn man das Buch lesen will, sollte man diese Information vielleicht noch ein bisschen zurückhalten.
Meyer: Jetzt erzählen Sie so anschaulich, wie interessant das alles ist bei Karl May. Wir müssen aber noch mal die Frage ansteuern – Sie haben so eine klassische Karl-May-Biografie. Junge Menschen haben die ja nicht mehr, die lesen das, jedenfalls in der großen Menge, nicht mehr. Können Sie sich das erklären, dass Karl May so aus dem Fokus geraten ist?
Schwenke: Ja, ich hab in den letzten Jahren natürlich auch noch mal vieles wiedergelesen und habe dabei gemerkt, dass die Geschichten unseren heutigen Lesegewohnheiten nicht mehr so ganz entsprechend. Die Charaktere in den Karl-May-Geschichten sind immer sehr eindimensional. Es ist ein ganz klares Schwarzweiß, die Guten, die Bösen – wenn man sich anguckt, wie populäre Jugendliteratur zum Beispiel heute ist, muss man schon feststellen, das ist schon ein bisschen komplexer geworden.
Schon Luke Skywalker aus "Star Wars" war ein komplexerer Charakter als Old Shatterhand. Das Gleiche gilt für Harry Potter oder zum Beispiel auch für die "Hunger Games"-Trilogie. Das sind alles Leute, die mit großen Zweifeln an ihren Abenteuern wachsen. Old Shatterhand reitet durch ferne, fremde Gegenden und weiß von vornherein immer alles besser und hat immer recht und gewinnt immer. Das ist immer noch sehr unterhaltsam zu lesen, ich merke aber, es hat nicht mehr die Tiefe und charakterliche Spannung, die wir heute eigentlich auch so aus der populären Literatur und auch aus dem populären Film so gewohnt sind.
Meyer: Sodass an Karl Mays Werk vielleicht der Autor tatsächlich das Interessanteste ist, was man sich angucken kann. Das haben Sie getan in Ihrem Roman "Das Flimmern der Wahrheit über der Wüste".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.