David Vann: Goat Mountain
Aus dem amerikanischen Englisch von Miriam Mandelkow
Suhrkamp Verlag, Berlin 201
291 Seiten, 22,95 Euro
Der Hirsch, der ins Jenseits geht
Der Knabe war klein, der Berg ein Ungeheuer: Fragen von Schuld und Sühne, Männlichkeit und Gewalt diskutiert der neue Roman des Amerikaners David Vann. In "Goat Mountain" bettet er die eskalierend-archaische Geschichte eines Jagdausflugs in meisterhafte Naturbeschreibungen.
Es beginnt mit einer Ungeheuerlichkeit inmitten der Schönheit. Nordkalifornien, 1978, eigentlich soll er sehr besonders werden, der Jagdausflug des Jungen, im Quartett mit Großvater, Vater und Tom, dem Freund der Familie. Wie jeden Herbst ziehen die Generationen zum Jagen in die Pacht, die staubig-rötliche, mit Zuckerkiefern und Eichen bestandene und von Klapperschlangen geschlagene Wildnis um den Goat Mountain. Seinen ersten Hirsch soll der Elfjährige erlegen; sich so in die Jagdgeschichte seiner Ahnen einschreiben. Doch er erschießt in vollem Bewusstsein seiner Tat kein Tier, sondern einen Wilderer, der sich auf dem Gelände herumtreibt.
"Ganz selten ist die Welt wirklich neu. Und ganz selten stehen wir dabei im Mittelpunkt. In diesem Augenblick jedoch hatte sich alles neu geordnet. Wenn wir töten, richtet sich alles Bestehende nach uns aus."
Eine meterhohe Blutspur klebt plötzlich am Fels und der Eindringling liegt zerfetzt vom Großkaliber in der Idylle, langsam sammelt sich eine blauschwarz wabernde Masse von Fliegen im Durchschuss. Keine Gefühlsregung ergreift den Jungen, er steht still im Auge des Sturms, bewundert seinen exzellenten Schuss, während die Erwachsenen zunächst erstarren, um sich dann umso rigider zu verhalten.
Der Hausfreund Tom hat den Reflex, das Weite zu suchen, die Polizei zu verständigen, sich dem Gesetz zu unterwerfen. Der Vater des Jungen versucht, seinen Spross zu schützen, indem er sich zwischen ihn und den Großvater stellt, indem er den Jungen zwar bestrafen will aber auch zu verstehen versucht. Der Großvater nun nimmt die extremste Position ein: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der Knabe soll seiner Meinung nach mit dem Tod für seine Tat büßen. Das Recht, die Sühne, die Todesstrafe: Drei Positionen gegenüber dem Mord und drei Ideen von Konsequenz stellt der Autor gegeneinander. Zum Beobachter dessen wird das Kind, dessen Verständnis von Recht und Unrecht noch keinen Anker hat.
Ein Zurück aus der Hölle
Der Junge steht im Zentrum des Geschehens und aus seiner Sicht ist erzählt, wie das Verhängnis seinen Lauf nimmt, als der Vater die Leiche ins Camp schleppt und einem Hirsch gleich an den Haken hängt. Wie in den folgenden Stunden noch Normalität simuliert wird, wo der Gedanke an den Toten jede Unschuld vergiftet. Gewalt grundiert alles, und als tatsächlich noch ein Hirsch erlegt wird von dem Jungen, eskaliert die Erzählung, nur für drei Figuren gibt es ein Zurück aus der Hölle.
Es verblüfft, wie der Autor die grausamen Ereignisse, die gemacht sind, einem zeitweise den Magen umzudrehen, in eine meisterhafte Naturerzählung bettet. Vom ersten Satz an versinnlicht sich das Geschehen in die Beschreibung der vielfältigen Aromen des Waldes und der Natursensationen des Jungen. Der Respekt vor dem Tod, der dem Wilderer vorenthalten wird, gehört dem seitenlangen Weg, den der Hirsch ins Jenseits geht, und der in dem ritualhaften Verzehr seines Herzens mündet. Selbst dies ist in aller Schönheit beschrieben, verstörend.
"Mit diesem Buch werden die letzten Reste dessen weggebrannt, was mich ursprünglich zum Schreiben trieb, nämlich die Geschichte über meine von Gewalt getriebene Familie.“
So schließt David Vann seine Danksagung, und legt sowohl hier als in vielen Interviews offen, dass Schreiben für ihn nicht zuletzt Therapie bedeutet. "Goat Mountain“ fußt auf der allerersten Kurzgeschichte, die Vann vor zwei Jahrzehnten schon geschrieben hat, und er führt in eine männliche und mutterlose Welt, die immanent gewalttätig ist. Doch diese biografischen Senkbleie braucht die Lektüre nicht, dieser im schlimmsten wie im besten Sinne überwältigende Text steht für sich.