Matthias Nawrat: Unternehmer
Rowohlt, Reinbek 2013
144 Seiten, 16,95 Euro
Die Familie als Wirtschaftsmodell
Um der Armut zu entkommen, riskiert ein Vater die Gesundheit seiner Kinder: Er sammelt mit ihnen giftigen Schrott. Matthias Nawrats Roman zeigt, was es bedeutet, wenn ökonomische Zwänge eine Familie in Deutschland zerfressen.
Gleich geht es los. Nur noch ein bisschen arbeiten, und dann sind sie in den Vogesen oder in Neuseeland oder an einem anderen Ort, der für diese Familie unerreichbar ist: Vater, Mutter, Tochter, Sohn. Der Berliner Autor Matthias Nawrat erzählt in "Unternehmer" von einer akut von Armut bedrohten Familie in einem kleinen Schwarzwaldort von heute. Der Vater verspricht die Auswanderung, aber vorher muss eben das "Klimpergeld" noch zusammen kommen. Mit seinen beiden Kindern steigt er in alte Fabriken und verlassene Gebäude ein – immer auf der Suche nach Edelschrott: Kühlschränke, Waschmaschinen, Autofelgen. Oder aber Reste von Edelmetallen, die sich irgendwo verstecken, in Spulen, auf Platinen, in Rotoren. Man muss sie nur aufspüren und zum Metallhändler bringen. Dass er dafür die Gesundheit seiner Kinder riskiert, das nimmt er in Kauf.
Ein kühl-poetischer Roman
Er nennt es Unternehmertum. Oder wie es in Matthias Nawrats kühl-poetischen Roman zu lesen ist: "Unser Beruf bringt viele Schmerzen mit sich. Aber die Schmerzen müssen wir ertragen können. Das ist das Gesetz des Unternehmertums." Für den Vater heißt dies, alles aufs Spiel zu setzen, nur um selbstständig zu bleiben, auch wenn das Geschäft immer schwieriger wird, die Bank ihm nichts mehr gibt, er in Depression verfällt. Letztlich gilt: "Müdigkeit ist etwas für Arbeitslose." Zumal: Die Familie ist für ihn ein Wirtschaftsmodell: "Was man einträgt, darf man mit Profit zurückerwarten."
Die wirklich starke Figur in diesem Roman ist jedoch die Tochter: Lipa. Aus deren Perspektive erzählt der Autor. Sie wird langsam erwachsen, verliebt sich, will der traurigen Schrott-Sammlerei entfliehen, den Vater aber auch nicht enttäuschen. Am Ende weiß sie sich auf ihre Weise zu emanzipieren.
Beeindruckend genaue Schilderungen
Matthias Nawrat, geboren 1979 in Oppeln, kam als zehnjähriger Junge nach Süddeutschland, studierte später in Freiburg Biologie, legte vor zwei Jahren seinen Debütroman vor, fiel beim Ingeborg-Bachmann-Preis auf und kommt nun mit dieser Familiengeschichte, die dem Leser so beeindruckend genau vor Augen führt, was es bedeutet, wenn die Dominanz ökonomischer Gesetze eine Familie zerfressen. Dieser Roman beeindruckt von der ersten Zeile an mit seiner eigenen Sprache, mit seinem unterkühlten, strengen Ton und gleichzeitig seinem poetischen, parabelhaften Vokabular, wenn etwa Eigenschaften zu Namen werden: die Vergifteten, die Lauten, die Veränderten, der Spezial.
Nawrat lässt den Leser durch die giftigen Welten des Metall-Sammelns laufen. Man spürt geradezu die Ausdünstungen der Industriereste, die physikalisch-chemische Begrifflichkeit umstellt uns – wir fühlen uns gefangen. Ein Gefühl, das auch die Erzählerin, die Tochter Lipa, hat. Es ist ein Gefühl, aus dem sie unbedingt ausbrechen muss. Sonst droht Vergiftung. Aber so stark wie der Autor sie zeichnet, dürfte ihr ein Neuanfang gelingen.