Roman Ehrlich: "Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens"
S. Fischer, Frankfurt a. M. 2017
640 Seiten, 24 Euro
Die Angst im Nacken der Epoche
Ein junger Mann verliert die Orientierung in seinem Leben. Abhilfe soll die Mitarbeit an einem Horrorfilm schaffen. Doch Abgründe tun sich auf: Der Filmregisseur entpuppt sich als gnadenloser Sezierer unserer Gegenwart. Roman Ehrlichs dritter Roman ist erzählerisch stark, sagt unser Kritiker.
"Die fürchterlichen Tage des schrecklichen Grauens" ist das dritte und bisher umfangreichste Buch des 1983 geborenen Roman Ehrlich, der vor vier Jahren mit seinem Debütroman "Das kalte Jahr" sogleich viel Aufmerksamkeit erregte.
Hauptfigur ist ein junger Mann namens Moritz, der die Orientierung im Leben verloren hat. Sein Job in einer Musik-Agentur ödet ihn nur noch an. Die Beziehung mit seiner Freundin ist zerbrochen. Da ergibt sich für Moritz die Gelegenheit, beim "Schrecklichen Grauen" mitzumachen, dem Filmprojekt seines früheren Studienfreundes Christoph Raub. Ein komplexer Horrorfilm soll es werden. Moritz bringt nur einen Wunsch mit in die Produktion: Einen möglichst grausamen Tod möchte er vor der Kamera sterben.
Horror als Normalzustand der Gesellschaft
Bevor jedoch das Kunstblut fließt, fließt erst einmal ausgiebig die Rede. In Ulm trifft sich die Filmkommune zu Selbsterfahrungsrunden im Café Porsche. Nicht über Drehbuch und Rollen wird jedoch gesprochen, vielmehr berichten die Teilnehmer zur Einstimmung von ihren elementaren Angsterlebnissen. Der charismatische Christoph, der sich im Verlauf des Romans vom Regisseur zu einer Art Sektenführer entwickelt, steuert die passende Philosophie bei: Die Angst sitze der Epoche im Nacken; der Normalzustand der gegenwärtigen Gesellschaft sei der Horror, den es zu dokumentieren gelte. Im engeren Sinn sei Angst die Erwartung von Schmerz, und der Schmerz das "Andere", durch das der eigene Körper zutiefst fremd werde. Interessanter als diese etwas plakativen Reflexionen sind die ganz unterschiedlichen Angsterfahrungen der Teilnehmer – ein breites Spektrum des Verstörenden, das mit großer Erzählkraft vergegenwärtigt wird.
Der Roman hat keinen geradlinigen Plot. Vielmehr handelt es sich um ein experimentelles und dennoch erstaunlich süffig zu lesendes Werk, komponiert aus vielen einzelnen Erzählungen, in denen das Skurrile immer wieder unvermittelt ins Grausige übergeht. Gekonnt verknüpft Ehrlich die Ebenen, zu denen auch ein eigenwilliger Kanon von Trash-, Gore- und Splatter-Horrorfilmen gehört, deren zumeist abstruse Handlung mit schön kontrastierender Sachlichkeit referiert wird.
Treffende Beschreibung der Gegenwart
Im zweiten Teil folgt endlich die kaum weniger eigenwillige Praxis des Filmens. Ohne erkennbares Drehbuch schickt der Angst-Guru Christoph seine Jünger mit Campingausrüstung auf eine strapaziöse Wanderung durch die deutsche Provinz, als wären sie die Pfadfinder des Grauens. Die Kamera läuft mit: Horror-Aktionskunst, Happenings in der Natur, Flashmobs in öden Dörfern. So hangelt sich das Projekt von einer Improvisation zur nächsten, und es ist schwer zu erkennen, ob es sich um einen ins Schmerzhafte getriebenen Dilettantismus handelt oder ob nicht vielleicht doch ein großer Plan dahintersteht. Ist der Film womöglich nur Vorwand für einen dunklen spirituellen Trip?
Dass das Projekt des "schrecklichen Grauens" bis zum Schluss rätselhaft und offen bleibt, ist allerdings Voraussetzung für diesen Roman, der auf seinem Weg viele ins Schwarze treffende Beschreibungen der Gegenwart entwickelt. Es ist ein melancholisches und stilistisch erstaunlich souveränes Buch, das weiß, dass unsere Alltagswelt ein simulierter Zustand der Sicherheiten ist, ein Netz über gähnenden Abgründen.