Cormac McCarthy: Ein Kind Gottes
Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014
144 Seiten, 12,99 Euro
Ein hartes Leben in Tennessee
Cormac McCarthy beschreibt es in seinem bereits 1974 erschienenen, aber nun erst übersetzten dritten Roman das traurige Leben des Lester Ballard. Es ist ein Schicksal, das berührt.
Ob Lester Ballard wirklich bloß einer von vielen ist, einer von uns? Als kleines, unsauberes und unrasiertes Männchen, das sich mit einer "ungezwungenen Verbissenheit" bewegt, so stellt Cormac McCarthy den Helden seines Romans "Ein Kind Gottes" vor. Und er konstatiert, fast nebenbei: "Vielleicht ein Kind Gottes ganz wie man selbst".
Das allerdings würde man im Verlauf der Lektüre nur noch magengrummelnd unterschreiben wollen, entwickelt sich Ballard doch zu einem grausamen Monster; zu einem Serienmörder und Nekrophilen, der die Körper seiner Opfer nicht nur konserviert, sondern auch versucht, mit den weiblichen Leichen Sex zu haben.
Zunächst jedoch scheint er wirklich nur zu der Unzahl gebeutelter, geschundener, kaputter und einsamer Menschen zu gehören, die Amerika im allgemeinen und die Romane des 81-jährigen amerikanischen Schriftstellers Cormac McCarthy im besonderen bevölkern. Ballard muss sein Haus verlassen, es wird versteigert, so beginnt der irgendwo in Sevier County, Tennessee angesiedelte Roman.
Er findet daraufhin zuerst in einem runtergekommenen, auf einem verwahrlosten Grundstück stehenden Häuschen mit Außenklo Unterschlupf. Als er das aus Versehen abfackelt, landet er mit seinen paar Habseligkeiten in den Höhlen der Umgebung. Spärlichen Kontakt hat Ballard mit Seinesgleichen, dem "white trash" von Tennessee: beispielsweise mit dem Whiskeybrenner Fred Kirby oder dem Müllhaldenbesitzer Reubel, dessen Frau und deren neun Kindern. Am liebsten bleibt er jedoch allein. Er sehnt sich zwar nach Liebe und Sex, weiß aber nicht, wie man sich dem anderen Geschlecht anders als aggressiv nähern soll.
Zeit und Gegenwart spielen keine Rolle
Man könnte sagen: Ballard ist ein früher Vorläufer des psychopathischen Auftragmörders Chigurh aus McCarthys 2005 veröffentlichen und von den Coen-Brüdern verfilmten Roman "No Country For Old Men", ein Mörder "without a cause". Und wieder verzichtet McCarthy auf weiter- und tiefergehende Psychologisierungen.
Es gibt in "Ein Kind Gottes" nur ein, zwei Szenen aus Ballards Kindheit, und man erfährt, dass die Mutter abgehauen ist und der kleine Lester den Vater von dem Strick abschneiden musste, an dem dieser sich erhängt hatte. Und wie bei "No Country For Old Men" scheint es erneut eine Verfilmung zu sein, die diesem Mc-Carthy-Roman einem größeren Publikum zuführt: James Franco hat "Ein Kind Gottes" vergangenes Jahr fürs Kino adaptiert, ein Film, den es hierzulande allerdings nur auf DVD gibt.
Dafür ist nun dieser schon 1974 erschienene Roman, der dritte von Cormac McCarthy nach seinem Debüt "The Orchard Keeper" (der noch auf eine deutschen Übersetzung wartet) und "Draußen im Dunkel", auch ins Deutsche übertragen und zumindest als Taschenbuch veröffentlicht worden. Wobei man diese lange Zeit dem Roman nicht anmerkt.
Zeitlich angesiedelt ist er in den sechziger Jahren, aber Zeit und Gegenwart spielen hier keine Rolle; so war es immer, so wird es immer sein. Zumal McCarthy schon ganz auf der Höhe seines Könnens ist: sparsam mit Dialogen, seine Figuren selten Freunde des Wortes, mehr an den jeweiligen Verrichtungen seines Helden interessiert, die ausdauernd beschrieben werden, scheinbar empathielos Lester Ballard beobachtend und begleitend, den harten Winter und den nachfolgenden, von einem schlimmen Hochwasser eingetrübten Frühling im Land mit seinem mörderischen, aber eben auch der Natur zugewandten Tun kurzschließend.
"Glauben Sie, die Menschen waren damals schlechter als heute", fragt einmal der Sheriff von Sevier County und erhält die Antwort: "Nein, (...), glaube ich nicht. Ich glaube, die Menschen sind immer die Gleichen gewesen, seit Gott den ersten geschaffen hat." Das erklärt zwar nicht die regellose, mehr oder weniger unbegründete Brutalität von Lester Ballard. Trotzdem schafft es McCarthy, dass einen Ballards Schicksal am Ende berührt. Dieses Kind Gottes vergisst man nicht so leicht.