Roman

Ein Mann und sein Mysterium

Von Katrin Schumacher |
In seinem neuen Roman schickt der japanische Bestsellerautor Haruki Murakami einen blassen Protagonisten durch ein belangloses Leben – und findet durch Reduktion zur Hochform: wenig Aroma, viel Transzendenz.
Wie viel Schwarz braucht eine Seele, um der Rede wert zu sein? Wie viel Spektakel eine Biografie? Wie farblos darf ein Protagonist sein, dem man dennoch folgen soll? Tsukuru Tazaki wird er bereits im Titel als „farblos“ bezeichnet, kein sonderlich schmückendes Adjektiv für einen Romanhelden.Er lebt in einer kleinen Wohnung in Tokio, arbeitet als Architekt an der Optimierung von Bahnhöfen, taucht abends in die Musik von Liszt und in amerikanischen Jazz ein, kocht ab und an eine Misosuppe und schaut mit 36 Jahren zurück auf ein Leben, das in flachen Amplituden verlaufen ist
Das einzige derangierende Moment in seinem Leben ist dem Junggesellen mit knapp Zwanzig passiert: Vier Jugendfreunde wandten sich von einem Tag auf den anderen von ihm ab und wollten nichts mehr mit ihm zu tun haben. Nicht nur metaphorisch floss daraufhin alle Farbe aus seinem Leben: Alle Freunde trugen eine Farbe in ihren Namen. Tsukuru stürzte in eine monatelange Todessehnsucht.
Der Vorfall ist „murakamisch“ zu nennen. Eine ähnliche Versuchsanordnung begegnet in jedem der bislang zwölf ins Deutsche übersetzten Romane des Japaners: In einem unauffälligen Leben passiert etwas Unerhörtes, und die Welt gerät aus den Fugen. Tsukuru, der Konstrukteur von Transiträumen, befindet sich seitdem in einem Zwischenzustand - haltlos, bindungslos, ein Mann ohne Besonderheiten. Bis eine Frau in sein Leben tritt. Will er mit ihr zusammenbleiben, muss er sein Trauma durcharbeiten und die vier ehemaligen Freunde aufsuchen, um sich eine Erklärung für ihren Verrat geben zu lassen.
Gut und Böse, Begehren und Verrat
Es ist ein dezent furioser Beginn, mit dem Haruki Murakami in das schwarze Zentrum der Melancholia führt. Mit gewohnt sparsamer Metaphorik, ironiefrei und ohne doppelte Böden erzählt er von Gut und Böse, Begehren und Verrat. Und bleibt dabei ganz im Erfahrungshorizont seines Helden. Diese Schlichtheit gilt es auszuhalten, was dadurch erleichtert wird, dass Murakami seinem Helden einige Rätsel belässt.
Diese kleinen Anschläge auf den Rationalismus sind keine neue Lektüreerfahrung bei Murakami. Auch in seinem letzten Roman „1Q84“ ging es um Fantastisches. Doch was dort opak und verquatscht daher kam, ist nun nur noch als leichtes Untergrundbeben spürbar: etwa wenn eine Frau unter mysteriösen Umständen erwürgt wird, eine Binnenhandlung von einem synästhetischen Pianisten mit zwölf Fingern erzählt oder Traum und Realität verschwimmen.
Im Mittelpunkt steht ein Nebendarsteller, der die Hauptperson zu spielen hat. Der blasse Herr Tazaki führt zu all den Nebencharakteren der Literatur, den Alberts, die neben Goethes Werther stehen, den Eisenbahnern Arthur Schnitzlers, den Walters, die eifersüchtig sind auf die Strahlkraft des Musilschen Mannes ohne Eigenschaften. Oft ist es die Eifersucht, die diese Nebenfiguren ergreift – das gilt auch für Tsukuru Tazaki. Sie lässt ihn zum ersten Mal um sein Leben kämpfen. Haruki Murakami schickt einen Nebendarsteller auf die Pilgerreise und kommt mit kleinen Fragen zu großen Antworten. Oder, anders gesagt: mit wenig Aroma zu viel Transzendenz.

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki
Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe
Dumont Verlag, Köln 2014
350 Seiten, 22,99 Euro