Stewart O'Nan: Die Chance
Aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel
Rowohlt Verlag, Reinbek 2014
222 Seiten, 19,95 Euro
Ein Paar auf Abwegen
Seinen Roman "Die Chance" erzählt Stewart O'Nan als intimes Ehe-Kammerspiel. Marion und Art, zwei insolvente Desperados, reisen ins Glücksspielparadies Niagara Falls, um den Untergang ihrer Beziehung abzuwenden.
Stewart O'Nan, Jahrgang 1961, aus Pittsburgh gebürtig, ist ein äußerst produktiver und wandlungsfähiger Autor. In seinen Romanen hat er stofflich und thematisch weit ausgegriffen, bis zum Amerikanischen Bürgerkrieg, dem Zweiten Weltkrieg und dem Vietnam-Krieg. Doch seine eigentliche Stärke ist die genaue und liebevolle Beschreibung des amerikanischen Alltags. Ihn interessiert die Nachzeichnung der subtilen Schwankungen, Veränderungen und Verschiebungen in den Beziehungen von Familien, Verwandten, Freunden, Nachbarn und ganzen Kommunen.
Sein eigentliches Thema ist der Niedergang des einst prosperierenden Industriegürtels um Pittsburgh und damit des wohlhabenden amerikanischen Mittelstandes. "Als Pittsburgher schreibe ich seit jeher über den Abstieg der Mittelschicht, über deren unaufhaltsame Abwärts-Mobilität. Ich sehe keine Chance, die uns retten könnte", sagte O'Nan 2012 im Interview mit dem "New Yorker" anlässlich des Erscheinens seines jüngsten Romans "The Odds. A Love Story".
"Die Chance", O'Nans 13. Roman, ist ein intimes Ehe-Kammerspiel, erzählt mit der Stringenz und Verknappungskunst einer klassischen Novelle. Novellenhaft bereits der Eingangssatz:
"Getrieben von hohen Schulden, von Unschlüssigkeit und, törichterweise, von der unterschwelligen Erinnerung an ihre Untreue, flohen Art und Marion Fowler am letzten Wochenende ihrer Ehe aus dem Land."
Die Eheleute, beide um die 50, nehmen den Bus von Cleveland nach Niagara Falls, um in der Erinnerung an ihre Hochzeitsreise vor 30 Jahren in der Hochzeitssuite eines Luxushotels mit Blick auf den Wasserfall den Valentinstag zu feiern.
In jeder Beziehung am Ende
Es ist die Parodie einer zweiten Hochzeitsreise, denn die Eheleute sind in jeder Beziehung am Ende. Die Immobilien- und Finanzkrise von 2008 hat sie voll erwischt: Art hat seinen Job in der Versicherungsbranche verloren, die Schulden des Paares belaufen sich auf eine Viertelmillion Dollar, ihr Haus steht zum Verkauf, sie planen die Scheidung, um ihren Schulden zu entgehen. Der Trip nach Niagara ist Arts verzweifelter Plan, um den Untergang noch abzuwenden: In einem neuen Casino auf der kanadischen Seite will er die letzten Ersparnisse, 40.000 Dollar, auf ein vermeintlich sicheres Roulette-System setzen.
Stewart O'Nan kostet die Widersprüche, die für seine insolventen Desperado-Figuren in Schauplatz und Setting des Romans angelegt sind, voll aus. Niagara Falls ist der abgeschmackte Inbegriff von romantischem Kitsch: ein durchkommerzialisiertes grelles Fantasyland für den Massenkonsum – das Naturschauspiel als ordinäre Touristenfalle. Ehe sie ihren Casino-Coup durchziehen, konsumieren die beiden Amateur-Hochstapler Art und Marion das gesamte schale Unterhaltungsprogramm, das der Ort zu bieten hat, und bezahlen es betrügerisch mit Kreditkarten, die demnächst eingezogen werden.
Mit hohem Kunstverstand kontrastiert der Autor das private Unglück seiner Helden mit dem öffentlichen Ort und ihren verzweifelten Selbstrettungsversuch mit dem romantisch übertünchten gnadenlosen Abzocksystem, dessen Opfer sie sind, ohne es zu durchschauen. Der kleine Sieg, den der Autor seinem Paar am Ende gönnt, ist allenfalls ein Aufschub auf dem Weg nach unten.