Marcel Proust: Im Schatten junger Mädchenblüte
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Band 2
Aus dem Französischen und mit Anmerkungen von Bernd-Jürgen Fischer
Reclam Verlag, München 2014 844 Seiten, 32,95 Euro
Erste Leidenschaft
Mit "Im Schatten junger Mädchenblüte", dem zweiten Band von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", begann die Erfolgsgeschichte Marcel Prousts. Linguist Bernd-Jürgen Fischer hat die gesamte "Recherche" übersetzt. Jetzt ist der zweite Band erschienen.
Erst mit "Im Schatten junger Mädchenblüte", dem zweiten Band von "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", erschienen 1919, begann die Erfolgsgeschichte Prousts. Der renommierte Prix Goncourt wurde ihm verliehen, Auflage folgte nun auf Auflage, und die Publikation der weiteren Bände war gesichert: Werk in der Welt.
Zu Beginn wird eine neue Figur eingeführt, der meinungsfreudige, mit selbstherrlicher Souveränität auftretende Diplomat Norpois. Mehr Eindruck auf den jungen Marcel macht die Begegnung mit dem Schriftsteller Bergotte; ein literarisches Initiationserlebnis. Im Folgenden gibt es neue Einblicke in die Welt der Swanns. Die erste Leidenschaft des Erzählers mit Gilberte Swann verläuft allerdings enttäuschend; auf den Trennungsschmerz folgt schließlich die Gleichgültigkeit.
"Mädchenblüte" ist der sommerlichste Band der Recherche - ein schönes Urlaubsbuch.
"Mädchenblüte" ist der sommerlichste Band der Recherche - ein schönes Urlaubsbuch.
Die zweite Hälfte spielt an der normannischen Küste, im fiktiven Badeort Balbec (Vorbild: Cabourg), wo eine Gruppe blühender Mädchen (die "kleine Bande") um die kapriziöse Albertine dem Erzähler in ihren Bann zieht - ebenso freche wie anmutige Geschöpfe, die über "Mummelgreise" ("alte Knaben" in der Neuübersetzung) springen und deren wandlungsfähige Gesichter so minutiös beschrieben und entziffert werden wie die Stimmungen des Meeres. Anrührend: das zärtliche Klopfen der Großmutter an die Hotelzimmerwand. Kurios: der erste Auftritt des überlebensgroßen Baron Charlus.
So wortgetreu wie nur möglich
Die "Recherche" ist eines der bedeutendsten Prosawerke des 20. Jahrhunderts. Deshalb kann die spärliche Übersetzungsgeschichte verwundern. Das Monopol hat bisher die verdienstvolle Übersetzung von Eva Rechel-Mertens, original oder in der Überarbeitung von Luzius Keller. Nun ist die Zeit der Alternativlosigkeit vorbei. Der Linguist Bernd-Jürgen Fischer hat in zehnjähriger Arbeit die ganze "Recherche" in aller Stille übersetzt. Seine Fassung erscheint etappenweise seit dem vergangenen Jahr.
Fischer hat das Ethos vieler heutiger Übersetzer: so wortgetreu wie nur möglich zu übertragen. Große Vorzüge entwickelt seine Fassung bei den Beschreibungen, den lyrisch-poetischen Passagen, bei Landschaften, Musik, Bildern, etwa in den Gesprächen mit dem Maler Elstir. Bei den der Gesellschaftskomödie dienlichen Dialogpassagen dagegen verfehlt er gelegentlich den Ton; manche Pointe verblasst unnötig, manche Formulierung klingt ein wenig verstolpert. Von der Schauspielerin Léa sei bekannt, "dass ihre Neigungen nicht nach der Seite der Herren gingen", heißt es schlicht bei Rechel-Mertens. Bei Fischer ist nun die Rede von einer Frau, "deren Neigungen nicht in dem Ruf standen, sie hauptsächlich zum Herrenufer zu tragen."
Das sind Momente, in denen klar wird: Auf Rechel-Mertens können wir noch lange nicht verzichten.
Das sind Momente, in denen klar wird: Auf Rechel-Mertens können wir noch lange nicht verzichten.