Szczepan Twardoch: Morphin
Aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Rowohlt , Berlin 2014
590 Seiten, 22,95 Euro
Held in der Männlichkeitskrise
In "Morphin" geht es um einen Helden, der zerrissen ist zwischen seinem Vater und seiner Mutter - in Warschau 1939. Auch mit Drogen hat er zu kämpfen. Das Buch machte den Schriftsteller Szczepan Twardoch in Polen zu einem Star. Nun erschien der Roman auf deutsch.
Die Romanhandlung ließe sich schnell erzählen: Im von der deutschen Wehrmacht okkupierten Warschau (Oktober 1939) streift der 30-jährige Leutnant der Reserve der polnischen Armee, Konstanty Willemann, durch eine kaputte Stadt, gerät über familiäre Bande in Kontakt mit dem polnischen Widerstand, in dessen Auftrag er eine klandestine Reise nach Budapest unternimmt, um strategisch wichtige Dokumente in Empfang zu nehmen. Zurück in Warschau, wird er alsbald getötet.
Was da anmuten könnte wie ein patriotisches Heldenepos aus dem Widerstand, ist dabei etwas völlig Anderes, und das deutet nicht nur der Titel des Romans an. "Schädel. Gestank." sind die ersten Worte dieses Textes. Es geht um Exzesse und Abgründe der Verzweiflung, um das Taumeln eines Individuums, das in die Wirrnisse des verlorenen Krieges, die Düsternis des eigenen Scheiterns (als Künstler), in diverse Spielarten der Sucht (Morphin, Alkohol) und eine verderbte Liebschaft zu einer Prostituierten gerissen ist. Ein haltloser Bohemien, der durch dieses Leben weniger geht als stolpert, wenn auch mit Sinn für Eleganz.
Die Eleganz kann er sich erlauben, weil seine Mutter, eine Schlesierin, die sich nach dem Ersten Weltkrieg entschlossen hatte, ganz und gar Polin zu werden, ein beträchtliches Familienerbe verwaltet und ihren Sohn aushält. Sein Vater, von deutschem Adel, gilt als tot, sein überraschendes Auftauchen gibt dem Roman eine seiner folgenreichen Wendungen. Komplett zweisprachig, polnischer Offizier (verheiratet mit der Tochter eines polnischen Nationalisten), aber ebenso verwurzelt in seiner deutschen Herkunft, ist Konstanty Willemann immer wieder dabei, Reflexionen über seine Identität anzustellen. Dass seine Mutter plötzlich ihr "Deutschtum" wiederentdeckt und sich sogar den deutschen Besatzern andient, ist eine weitere der Wendungen dieses Romans, die dieses Nachdenken anregt.
Roman beeindruckt mit Stil, Komposition und literarischer Virtuosität
Es ist nicht nur der Detailreichtum, der sich auf Waffen, Orte, historische Verläufe bezieht, was an diesem Buch beeindruckt. Es sind in erster Linie sein Stil, seine Komposition, seine literarische Virtuosität. Der Ich-Erzähler Konstanty trägt weite Teile des Textes im Stil eines Bewusstseinsstroms. Je tiefer der jeweilige Rausch ihn zieht, umso greller, trüber, ekstatischer und chaotischer wird dieser Ton, weicht ab von der syntaktischen Norm, wird zu einem Wortfeuerwerk aus Assoziationen, das die normale Erzählweise immer wieder unterbricht.
Zusätzliche Spannung erwächst aus einer zweiten Erzähler-Figur, die mit eigener Stimme spricht, aber ganz körperlos ist, eine Art Schutzengel, der den Helden mal anspricht, mal dessen Handlungen kommentiert, der aber nicht selbst ins Geschehen eingreifen kann. Diese "Stimme", allgegenwärtig, ist aber auch allwissend und nutzt dieses Wissen, um weiterführende oder zurückliegende Geschehnisse oder Biografien einzubringen, die über die eigentliche Romanhandlung hinausweisen. Das Potential an Verdichtung, das sich aus diesem Erzähler-Wechselspiel ergibt, hat Szczepan Twardoch hervorragend genutzt und aus all diesen Komponenten einen Roman verfasst, der zu einem Meilenstein modernen Erzählens werden dürfte.