Wie Walter Oehmichen mit zwei Marionetten aus dem Krieg kam
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Über die Entstehung der Augsburger Puppenkiste aus der Erfahrung des Faschismus hat Thomas Hettche den märchenhaften Roman "Herzfaden" geschrieben. Kein Kinderbuch, aber ein Buch, das auch Kinder in die Nachkriegszeit "hineinlotsen" kann, wie Hettche sagt.
Joachim Scholl: Alle, glaube ich, die mit der Augsburger Puppenkiste aufgewachsen sind, mit Jim Knopf und all den anderen legendären Marionetten, werden jetzt vielleicht ein bisschen nostalgisch seufzen. So geht es wohl auch dem Schriftsteller Thomas Hettche, denn sein neuer Roman "Herzfaden" ist ein Roman der Augsburger Puppenkiste.
Ihre Preise und Auszeichnungen, Herr Hettche, sind kaum zu überblicken. Und in vier Wochen könnte es beim Deutschen Buchpreis wieder gelingen mit Ihrem Roman der Augsburger Puppenkiste. "Herzfaden" ist auf der Shortlist. Aber wie sind Sie denn überhaupt darauf gekommen, einen Roman über die Augsburger Puppenkiste zu schreiben?
Thomas Hettche: Meine Bücher haben ganz verschiedene Themen, auch verschiedene Tonfälle, eigentlich. Für jedes neue Buch versuche ich mich selber neu zu erfinden, weil für mich ein Buch etwas ist wie eine Expedition, zu der man aufbricht, zu etwas Unbekanntem, was man finden will.
Und mir erzählte einfach eine Freundin eines Abends von der Geschichte hinter der Puppenkiste, die wir alle als Kinder gesehen haben. Also von der Familie, die diese Puppenkiste hat entstehen lassen. Das fand ich enorm faszinierend, weil mir das zum ersten Mal diese Puppenkiste eben in der Kriegs- und Nachkriegszeit verortet hat.
Klima der westdeutschen Nachkriegszeit
Und mich hat interessiert, wie Jim Knopf und das Urmel, wie die historisch entstanden sind. Und da bin ich auf die Suche und die Recherche gegangen und habe begonnen, mir diesen Stoff zu erarbeiten. Das war wirklich ein Eintauchen in die Kriegszeit und in das Klima der westdeutschen Nachkriegszeit.
Der Verdacht war, dass ich etwas in den Geschichten, die wir kennen, finden würde. Wenn man hinschaut, findet man da auch was. Wenn man sich überlegt, dass die Puppenkiste erfolgreich mit Geschichten war, die eigentlich alle von Patchworkfamilien handeln. Wenn Sie sich angucken: Das Urmel kommt in einem Ei, man weiß nicht woher. Der Jim Knopf wird als Postpaket falsch zugestellt. Es wird immer erzählt von Familien, die sich aus Sympathie bilden, nicht qua Genetik. Und das schien mir ein spannender Kontrast zu der Geschichte der Puppenkiste selber zu sein.
Scholl: Es ist auch eine Familiensage. Gegründet von Walter Oehmichen während des Krieges noch. Wer war denn das eigentlich und wie kam der dazu, eine Puppenkiste zu gründen?
Hettche: Walter Oehmichen war als Schauspieler mit seiner Frau nach Augsburg gekommen, wurde da Oberspielleiter. Und er hat sich immer schon für Kindertheater interessiert. Er musste dann in den Krieg und die Familienerzählung sagt, dass er im Kriegsgefangenenlager eben einen Puppenspieler kennengelernt habe und mit zwei Marionetten aus dem Krieg zurückkam, noch während des Krieges. Und er hat dann angefangen, mit der Familie das Puppentheater zu bauen. Es ist der Satz überliefert, dass er nach der Erfahrung des Faschismus nicht mehr mit Menschen spielen wolle, sondern mit Puppen, weil die ehrlicher seien.
Das war am Anfang ein Familienprojekt. Er hat das Theater im Privaten gebaut, den Puppenschrein, wie es erst hieß. Seine Frau Rosa hat die Kostüme gemacht. Und die beiden Mädel, es gibt zwei Töchter, Hannelore und Ulla Oehmichen, haben sozusagen gespielt und alles andere mitgemacht. Und aus dieser privaten Sache wurde dann nach 1945 das Projekt von Walter Oehmichen, nicht mehr ans Theater zurückzukehren, - also nur noch als Gast, aber nicht mehr beruflich -, sondern wirklich ein Puppentheater zu gründen für die Öffentlichkeit. Das ist dann die Puppenkiste, die 1948 Premiere hat.
Die allerersten Fernsehstars
Scholl: Die meisten Menschen werden die Puppenkiste aus dem Fernsehen kennen. Es ist ja interessant, dass ausgerechnet die Marionetten so allererste deutsche Fernsehstars waren. Nur wenige Wochen nach der Ausstrahlung der ersten Tagesschau 1953 war die Augsburger Puppenkiste zu sehen.
Hettche: Ja, das ist faszinierend. Es gab natürlich sehr viel mehr Puppentheater in Deutschland. Und wir kennen die Puppenkiste eben genau deshalb, weil sie diesen Mediensprung mitgemacht hat. Am Anfang waren die in Hamburg, haben im Grunde ihre Märchenstücke live fürs Fernsehen gespielt, da wurde nicht aufgezeichnet, die Sachen gibt es alle nicht mehr.
Aber das Entscheidende ist, dass dann mit dem Hessischen Rundfunk die Idee kam: Wir machen etwas Neues, wir machen eine Fernsehserie mit Puppen und wir machen das nicht mehr in den Kulissen eines Theaters, sondern wirklich als Tableau, wie man heute eben auch Animationsfilme machen würde. Das, was wir kennen, sind Inszenierungen wie das Urmel oder Jim Knopf, die auf einem großen Setting gedreht worden sind, im Foyer der Puppenkiste in Augsburg.
Das waren die ersten Fernsehserien und ein ganz neues Format. Und die Bedeutung der Puppenkiste liegt wirklich daran, dass sie diesen Medienwechsel gemacht hat. Und das wiederum hat sie, glaube ich, deshalb machen können, weil nicht Walter Oehmichen in dieser Zeit dann der bestimmende Mann war, sondern weil die Generation der Kinder das gemacht hat.
Wenn man sich anguckt, bei der Premiere 1948, das waren zwar die Eltern, aber dann waren das vor allem Freunde von Hannelore und Ulla Oehmichen, die damals ungefähr 17, 18, 19 waren, also ganz blutjunge Leute, die dieses Theater mit nach vorne gebracht haben. Und die hatten Interesse daran, wirklich dann auch diesen Medienwechsel mitzumachen.
Die nächste Generation brachte die Puppen ins Fernsehen
Scholl: Und es ist bis heute ein Familienbetrieb geblieben. Sie waren doch bestimmt in Augsburg und haben die Familie getroffen oder haben sich selber die Marionetten vorführen lassen, oder?
Hettche: Ja, natürlich. Also, ich meine, so ein Projekt zu machen, das ist zwar ein Roman, aber das sind alles historische Figuren. Die Namen sind Realnamen. So etwas kann man nicht machen gegen die Menschen, die da porträtiert werden. Ich habe natürlich mit Klaus Marschall, das ist der Sohn von Hannelore Oehmichen, gesprochen und das Projekt vorgestellt. Und ich habe vor allem mich sehr lange mit der Schwester, die noch lebt, mit Ulla Oehmichen unterhalten, die mir sehr viel erzählen konnte aus der Kindheit, aus ihrer Kindheit und der ihrer Schwester.
Und ich war natürlich im Theater, habe mir Vorstellungen angeguckt. Und das ist faszinierend, weil dieses Theater in Augsburg eine Institution ist. Es macht zwei Vorstellungen am Tag, mittags für Kinder, abends oft für Erwachsene. Das ist dauerhaft ausverkauft und ist eine ganz wichtige Sache in Augsburg. Und ich habe mir natürlich auch die Werkstätten angeguckt.
Scholl: Ich wollte gerade fragen, haben Sie mal so Marionetten in der Hand gehabt? Das ist ja doch eine ganz schön ausgefuchste Kunst.
Hettche: Ich hatte als Kind gar keine Ahnung, ich kannte das gar nicht. Und als ich dann zum ersten Mal eine Marionetten bekam, mit dem Führholz und dann die Bewegung, da habe ich eine merkwürdige Erfahrung gemacht: Diese Dinger sind so konstruiert, dass auch die Bewegungen eines Laien, der keine Ahnung hat, sofort natürlich aussehen. Natürlich kann man das nicht, aber man sieht: Ich mache jetzt mit der Hand, dem Holz, den Fäden – und dieses Wesen da unten wird lebendig. Das liegt an dieser Sache von Schwerkraft und Fäden und Pendelbewegung der einzelnen Glieder. Dieses Lebendigwerden des toten Holzes ist das Faszinierende an diesen Marionetten.
"Es sollte auch ein Buch für meine Tochter sein"
Scholl: Das Wie und das Warum haben Sie schon erzählt, Herr Hettche. Jetzt aber mal zur eigentlichen Heldin des Buches, es gibt eigentlich zwei Heldinnen. Erst mal ein zwölfjähriges Mädchen, das stiehlt sich nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste auf einen Dachboden durch eine geheime Tür – und plötzlich ist sie umgeben von den Marionetten, die leben und sprechen. Und vor allem trifft sie dort auf die Oehmichen-Tochter Hannelore – Hatü, wie sie jetzt heißt -, die dem Mädchen dann alles erzählt. Wie haben Sie denn diese märchenhafte Form entwickelt?
Hettche: Ich wollte nicht nur einen historischen Roman schreiben, der die Geschichte der Oehmichens und der Puppenkiste erzählt, sondern ich möchte auch so eine Art Gegenwartsebene haben, was diese Puppen heute sein können. Und da hat sich dann die Märchenebene angeboten. Und da es ein bisschen auch ein Buch für meine kleine Tochter sein sollte und für sie auch geschrieben ist, dachte ich, ich muss einen Zugang finden – sie ist jetzt 13, als ich anfing, war sie zehn –, ich dachte, ich muss was finden, mit dem sie da hineingelotst wird in diese Geschichte. Und da ich mit Kinderbüchern nicht so gut bin, dachte ich, das ist vielleicht eine Möglichkeit sie mitzunehmen in die Vergangenheit.
Scholl: Und deswegen wird auch das Mädchen mit einem iPhone ausgestattet. Am Anfang leuchtet sie noch in dem Dings und plötzlich hat sie keinen Empfang mehr. Im Märchen gibt es kein Handy.
Hettche: Ja, wobei das natürlich keine Medienkritik ist, sondern einfach dramaturgisch ganz schön war.
Die Geschichte vom Herzfaden
Scholl: Das war wichtig, dass sie keinen Empfang hat, sonst hätte natürlich sofort der Vater oder die Eltern angerufen, wo bist du? Mit Hatü, auf die kommen wir noch gleich. Sie erzählt auch dem Mädchen vom Herzfaden, was ist das eigentlich?
Hettche: Also Walter Oehmichen hat mal gesagt: Was tun wir eigentlich? Wir wackeln mit einem toten Stück Holz. Und das Faszinierende ist wirklich, dass Marionetten diese Lebendigkeit entwickeln, obwohl sie ja nur ganz einfache Dinge sind, Holz, ein bisschen Farbe, ein bisschen Stoff. Und der Herzfaden ist für mich die Metapher dafür, wie wir angerührt werden von so etwas Einfachem.
Ich lasse Walter Oehmichen sagen: Der Herzfaden ist der Faden, der die Marionette mit dem Herz des Lesers, des Zuschauers verbindet, hoffentlich auch mit dem Leser, nebenbei gesagt. Und das ist ja das Tolle, dass uns so einfache Dinge genügen, um Fantasie zu entwickeln.
Wenn wir uns an unsere Kindheitserfahrungen erinnern: Wir haben doch gesehen, dass da Fäden waren. Wir haben gesehen, dass das Meer beim Urmel aus Plastikfolie war. Man hat das Dilettantische dieser Inszenierung und der Requisiten gesehen. Und dennoch war man als Kind vollkommen in dieser Welt drin. Und dafür ist der Herzfaden die Metapher.
Das Gesicht des Kaspers und der Wehrmachtssoldat
Scholl: In Ihrer Märchengeschichte gibt es auch ja dunkle Punkte. Das ist nicht nur ein gemütliches Plauderstündchen auf dem Dachboden, sondern da legen Sie auch eine historisch politische Spur, könnte man sagen, mit der Figur und vor allem dem Gesicht des bösen, gefährlichen Kasperl. Was hat es damit auf sich?
Hettche: Hannelore Oehmichen ist Jahrgang 1930, das ist genau der Jahrgang meiner Mutter. Ich habe mit vielen aus der Generation noch gesprochen und sprechen können, um das Gefühl für die Situation zu bekommen, in der die aufgewachsen sind. Und da ist mir klargeworden, wie weit diese Prägung für Menschen, die eben als Kinder in dieser Welt groß wurden, wie sehr 1945 auch einen Verrat an ihren Kinderträumen, die natürlich faschistische waren, bedeutet hat.
Und wenn man diese alten Herrschaften heute spricht, dann erzählen die oft davon, dass 45 für sie eine Welt zusammengebrochen ist und dieser Kinderglaube, den Kinder entwickeln können, enttäuscht wurde. Und dieses Böse des Faschismus wollte ich gerne in diese Biografie von Hannelore Oehmichen hineinbekommen. Und da hat sich angeboten, weil es den Augsburger Kasper immer noch in der Puppenkiste gibt. Das ist ein ganz lieber Geselle, aber wenn man ihn sich anguckt: Das Gesicht entspricht genau dem einfachen Soldaten, der in der Wehrmacht war. Man kann vermuten, dass Walter Oehmichen den gestaltet hat nach dieser Wehrmachtsfigur, der auch so ein netter Geselle war, ein Landser eben. Und für mich ist da ein Geheimnis begraben oder eine Verdeckung. Und diese verborgene Kiste wollte ich erzählerisch wieder öffnen. Und dafür steht mein böser Kasperl.
Vierteldrachen und Halbdrachen
Scholl: Es sind verschiedene aktuelle Spuren eingearbeitet in Ihren Märchenstoff. Ihre kleine Heldin ist ein modernes, aufgewecktes Kind, mit iPhone ausgerüstet. Als Hatü sich eine Zigarette ansteckt, kommt von ihr sofort: Rauchen ist ungesund. Und dann fällt einmal das Wort Zigeuner, da kommt prompt von dem Mädchen: Das sagt man jetzt nicht mehr.
Wir haben ja eine Debatte seit Pipi Langstrumpf und ihrem Taka-Tuka-Land über auch das politisch korrekte Kinderbuch. Und wenn man sich jetzt das Tableau der vielen Figuren anschaut, hat eigentlich die Augsburger Puppenkiste auch ein politisch korrektes Problem, wenn es um Fragen nach Rassismus, Diskriminierung et cetera geht?
Hettche: Also, ich bin da sehr zwiegespalten. Einerseits: Natürlich gibt es rassistische Klischees, die man nicht weiterführen sollte. Andererseits bin ich ein großer Freund davon, dass man Texte nicht nachträglich verändert. Wir haben natürlich bei Jim Knopf einen – im Originalbuch heißt es, einen Negerjungen. Und dieses Wort würde man heute nicht sagen, aber zugleich war es in der Zeit natürlich anders zu verstehen.
Das ist sehr faszinierend, gerade bei Jim Knopf: Ich bin dann bei der Recherche auf das wunderbare Buch von Julia Voss gestoßen, die akribisch historisch rausarbeitet, inwieweit Michael Ende in Jim Knopf eigentlich auch den Rassismus des Faschismus verarbeitet hat. Es geht da um Vierteldrachen, Halbdrachen, es geht um Reinrassigkeit. Da hat Michael Ende schon damals etwas in sein Kinderbuch eingeschmuggelt, eine Diskussion über die faschistische Ideologie sozusagen. Und ich glaube, dass Kinderbücher so etwas transportieren können und sollen und dürfen. Und dass man deshalb aufpassen muss, sie eindimensional zu lesen. Man muss gucken, welche Begriffe okay sind, aber man muss auch die historische Vielfalt zulassen, die entstanden ist.
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