Roman

In der Erinnerung klingen die Stimmen

Der Literaturnobelpreisträger 2014: Patrick Modiano
Der Literaturnobelpreisträger 2014: Patrick Modiano © picture alliance / dpa /Frédéric Dugit
Von Peter Urban-Halle |
Für seine Erinnerungskunst ist der Franzose Patrick Modiano mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden. In "Gräser der Nacht" schaut er zurück und erzählt eine Geschichte um die Entführung und Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka im Herbst 1965.
"Es war eine Manie, alles kennen zu wollen, was im Laufe der Zeit und in aufeinanderfolgenden Schichten irgendeinen Ort von Paris ausgefüllt hatte." Selten hat Patrick Modiano so deutlich eingestanden, dass er ein manischer Autor ist. Kritiker behaupten, Modiano schreibe immer das gleiche Buch. Das tut er natürlich nicht. Aber man kann von einer Art Zyklus sprechen. In einem Interview sagte er, jedes Mal, wenn ein Buch fertig sei, scheine es mit ihm unzufrieden zu sein, weil er es eigentlich nicht zu Ende geführt habe. Deshalb müsse er das nächste anfangen, um das vorhergehende abzuschließen. Alle haben sie ein großes Thema: die Erinnerung. Sie ist das, was man verloren hat und zugleich bewahrt.
Der Ich-Erzähler von "Gräser der Nacht", ein Schriftsteller namens Jean, erinnert sich anhand eines schwarzen Notizbuchs an seine Pariser Zeit in den sechziger Jahren, als er mit einer mysteriösen Gruppe von Menschen verkehrte, die alle mit Marokko zu tun hatten, darunter das junge Mädchen Dannie. Jean liebt sie, aber sie bleibt undurchsichtig. Sie hat mehrere Wohnsitze, verschweigt ihren wahren Namen, ihre Aktivitäten und eine "üble Geschichte". Sicher ist nur, dass der historische Hintergrund nicht die Besatzungszeit der Kriegsjahre ist wie sonst in Modianos Romanen, sondern die skandalöse Entführung und Ermordung des marokkanischen Exilpolitikers Ben Barka im Herbst 1965, in die Dannie und ihre Freunde verstrickt zu sein scheinen.
Erinnerungsautor Modiano misstraut der Erinnerung
Die Aufzeichnungen des Notizbuchs sind sehr exakt und unzweideutig, aber sie bleiben nur "Anhaltspunkte". Das Drumherum, die eigentliche Geschichte, die Hergänge und Ereignisse von damals sind nicht mehr so genau zu erfassen. "Aber ich habe doch nicht geträumt", lautet der erste Satz des Romans. Und doch sagt Jean später, das Damals sei "wie im Traum" gewesen. Der Erinnerungsautor Modiano misstraut der Erinnerung auf jeder Seite. In der Erinnerung klingen dem Erzähler die Stimmen "schwach wie aus dem Radio", und Gesichter sind undeutlich wie "hinter der Scheibe eines Aquariums". Dennoch erforscht er sein Gedächtnis, in dem sich Orte, Zeiten und Personen kreuzen, obsessiv. Vor allem der, wie er sagt, städtische Raum erweist sich als eine Art Palimpsest, wo sich Ereignisse, Straßen, Erinnerungen und Bilder überschneiden und überschreiben.
Die Verleihung des diesjährigen Nobelpreises an Modiano war eine rein literarische Entscheidung. Sein Werk (und das neue Buch) besteht aus klar gebauten, relativ kurzen Sätzen und einem ruhigen, beschreibenden, von sparsamen Reflexionen und Dialogen unterbrochenen Erzählfluss. Andererseits ist der zeitliche (manchmal auch örtliche) Standpunkt nie ganz geklärt. "Gegenwart oder Vergangenheit hat es für mich nie gegeben. Alles verschmilzt", sagt der Ich-Erzähler Jean.
Das nehmen ihm manche Kritiker übel, einer nannte es sogar Modianos "Nebelmaschine". Dabei arbeitet Modiano ("Die Zeit war aufgehoben") nur an der "Überwindung der Zeit" – und das ist laut Hofmannsthal ein "mystisches Element der Poesie". Wir gehen mit lauter Fragen aus Modianos Büchern. Aber die befremdende Stimmung, die in ihnen herrscht, macht den Zauber seiner Prosa aus.

Patrick Modiano: "Gräser der Nacht"
Aus dem Französischen von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München, 2014
176 Seiten, 18,90 Euro

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