Lara Schützsack: Und auch so bitterkalt
Fischer Verlag, Frankfurt 2014
173 Seiten, 14,99 Euro, ab 12 Jahren
Mit unbestechlichem Blick

Hochsensibel und in starken Bildern schildert Lara Schützsack in ihrem Roman das Innenleben einer Magersüchtigen und den Kampf einer Familie um das Leben ihrer Tochter. Der Roman ist ein schönes, bewegendes und viel versprechendes Debüt.
Lara Schützsack erzählt die Geschichte einer tödlichen Krankheit. Ob man sie Magersucht nennt oder Depression, Lebenshunger oder Weltverlust ist zweitrangig. Die 15-jährige Lucinda ist Schwarm aller Jungen, schön, phantasievoll, abgeklärt und geheimnisvoll. Und sie ist zugleich ichbezogen, aggressiv, gemein und zynisch – jedenfalls gegenüber ihren Eltern. Lucinda ist einer jener Menschen, bei denen der Schmerz "von Geburt an in den Gedanken" lebt. Peu à peu entgleitet sie sich und ihren hilflosen Eltern, treibt hinein in eine furchtbare Spirale aus Selbstkontrolle und Macht über andere, zwanghaftes Hungern und Todessehnsucht. Ein trostloser, bitterkalter Sommer, in dem die Familie an einer Krankheit zerbricht, die ja nur die Spitze des Eisbergs ist.
Lucindas Schwester Malina erzählt. Mit dem unbestechlichen Blick einer vielleicht Dreizehnjährigen, die ihrer großen Schwester hörig ist, sie aber als einzige versteht und auf ihrem Weg in den Tod noch unterstützt. Auch Malina ist gespalten: scheu, rührend brav und rücksichtsvoll, um die Eltern zu entlasten. Und zugleich eine hellhörige, hellsichtige, kühle Beobachterin der Schlacht, die in der Familie um Lucindas Leben geschlagen wird. Malina ist die Co-Kranke, die Lucindas Krankheit intuitiv schützt, versteckt und vor den Eltern verteidigt. Denn sie kann nicht ohne die Liebe und Zuwendung der Schwester leben. Und verliert sie gerade darum auch.
Psychologisch hochinteressante Erzählung
Lara Schützsacks "Und auch so bitterkalt" ist ein großartiges Buch. Hochsensibel in der Beobachtung der Kranken und ihrer Strategien, die Krankheit zu vertuschen. Präzise in der Beschreibung der Eltern, die ganz unterschiedlich mit der Tochter umgehen – der Vater weich und nachgiebig, die Mutter zunehmend fordernd und entnervt. Psychologisch hochinteressant ist Malinas Erzählung auch darum, weil sich nur langsam und indirekt herausschält, dass auch sie nicht gesund sein kann. Die Schwestern klammern sich aneinander, um nicht unter zu gehen.
Lara Schützsack zieht mit Malina alle sprachlichen Register. Mal sehnsüchtig-romantisch, dann kühl-lakonisch und in sehr eindringlichen Bildern erzählt sie von Lucindas Verrücktsein. Ganz nah kommt uns das junge Mädchen und bleibt doch fremd und geheimnisvoll. Einige phantastische Szenen überschreiten die Grenze zum Halluzinatorischen, zum Traum. Viele Sequenzen kann man sich gut vorstellen, auch darum, weil Farben eine große Rolle spielen: die untergehende Sonne oder Lucindas giftfarbene Kleider. Und wenn sie Malina mal allein lässt, "nimmt sie alle Farben mit sich".
Kein Magersucht-Problembuch
"Und auch so bitterkalt" ist keins der Magersucht-Problembücher, wie es viele gibt auf dem Terrain zwischen Sachbuch und Belletristik. Es bietet keine psychologische Herleitung der Krankheitsursachen, keine Familien-Analyse und keinen Trost. Sondern es ist eine sehr poetische Erzählung, die die Einsamkeit aller Familienmitglieder in starke Bilder fasst. Ein schönes, bewegendes und viel versprechendes Debüt.