Patrick Chamoiseau: Die Spur des Anderen
Aus dem Französischen von Beate Thill
Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg
220 Seiten, 24,80 Euro
Moderne Robinsonade
Der Held des Romans strandet auf einer einsamen Insel - ganz ähnlich wie Robinson Crusoe. So wie bei der literarischen Vorbildfigur erlebt der Leser, wie der Protagonist reift und mit der Zeit souverän und heiter wird. Der Autor Patrick Chamoiseau beschreibt insbesondere die inneren Abenteuer des modernen Robinsons.
Von Daniel Defoes 1719 erschienenem Roman "Robinson Crusoe" gibt es unzählige Variationen, Filme, der Begriff "Robinsonade" ist ein feststehender Topos geworden. Trotzdem erzählt der martinikanische Autor Patrick Chamoiseau die Geschichte in seinem neuen Roman noch einmal.
Der Charme von "Die Spur des Anderen" ist, dass sich der Plot einerseits sehr genau an die Defoesche Vorlage hält: Ein Mann strandet auf einer einsamen Insel, lernt, zu überleben und die Einsamkeit zu ertragen. Eines Tages entdeckt er einen Fußabdruck am Strand und macht sich auf die Suche nach dem Anderen. Am Ende kommt ein Schiff, ihn zu holen. Und doch erzählt Patrick Chamoiseau eine gänzlich andere Geschichte als Defoe. Man merkt dem Roman an, welchen Spaß der Autor hatte bei den "kleinsten Verzerrungen" im Vergleich zur Vorlage. Zum Beispiel nennt Robinson den vermuteten Neuankömmling auf der Insel "Sonntag" -nicht "Freitag", wie bei Defoe.
Identität neu definieren
Diese Abweichungen erhöhen die intertextuelle Lesefreude, aber was "Die Spur des Anderen" zu einem eigenständigen Kunstwerk macht, ist Chamoiseaus Blick auf die Figur. Ihn interessieren ausschließlich die inneren Abenteuer, die psychischen Prozesse. Sein Robinson erinnert sich nicht an seine Herkunft und muss seine Identität neu definieren. In den ersten 20 Jahren unterwirft er sich die Insel. Nach der Begegnung mit der "Spur des Anderen" fühlt er sich stärker als Teil eines Natur-Ganzen. Und nach einem großen Erdbeben findet er Trost in der Literatur – pikanterweise nicht, wie der Original-Robinson, in der Bibel, sondern bei den alten Griechen.
Den Bericht des Gestrandeten flankiert Chamoiseau mit dem "Tagebuch des Kapitäns", das lange rätselhaft bleibt, den Roman am Schluss aber um eine soziale Komponente erweitert: Man erfährt, dass der Protagonist Afrikaner ist und auf der Insel ausgesetzt wurde, unter anderem weil er die Sklaven im Bauch des Schiffes befreien wollte. Während Defoe die Zivilisation feierte, geht es Chamoiseau um Humanität. Und um die Grausamkeit der Gesellschaft gegenüber dem, der sich nicht an ihre Regeln hält.
Man hört und riecht die Insel
Chamoiseaus Robinson ist eine Figur von heute mit Wurzeln im Gestern, das signalisiert auch die Sprache: Chamoiseau hat einen etwas altertümlichen, hohen, Defoe angenäherten Ton gewählt. Die Gedanken seiner Hauptfigur sind aber ganz und gar aktuell. Die Insel beschreibt Chamoiseau äußerst bildhaft, man sieht, hört, riecht die Tiere und Pflanzen geradezu.
In den Aufzeichnungen "Aus der Werkstatt", die Chamoiseau dem Roman nachstellt, schreitet er sein literarisches Universum ab: Er feiert das Individuum, dessen volle Entfaltung erst offen mache für die Beziehung. Er erklärt seinen Umgang mit der Defoe-Vorlage. Er verneigt sich vor seinen Referenz-Autoren Glissant, Césaire, Perse, Walcott, Faulkner. Diese Notizen sind aufschlussreich; sie beschweren die Lektüre allerdings auch mit viel theoretischem Ballast. Den hat dieser poetische, subversive, spielerische Roman gar nicht nötig.