Roman "Nationalstraße" von Jaroslav Rudis

Fantasien des Untergangs aus einer Prager Kneipe

Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis posiert am Donnerstag (15.03.2012) in Leipzig auf der Leipziger Buchmesse.
Der tschechische Schriftsteller Jaroslav Rudis. © picture alliance / dpa / Jens Kalaene
Von Tobias Wenzel · 28.02.2016
Er ist ein Geschichtensammler: Seinen Roman "Nationalstraße" verdanke er zum Teil einer zufälligen Begegnung in einer Kneipe in Prag, erzählt Jaroslav Rudis. Tobias Wenzel hat den tschechischen Schriftsteller in Berlin getroffen.
Jaroslav Rudis wartet auf die Berliner S-Bahn und spricht über seine Leidenschaft: Züge und Zugtypen.
"Ich würde jetzt lügen, wenn ich sagte, dass ich alle erkenne. Aber ich habe einen guten Überblick, was die Loks angeht."
Der 43-jährige tschechische Autor freut sich wie ein Kind, als die S-Bahn nach Ahrensfelde einfährt. Er steigt ein. Ziel: eine Plattenbausiedlung, die der Prager Siedlung aus seinem neuen, mal bitterbösen, mal tragikomischen Roman "Nationalstraße" ähnelt:
"Man hat immer das Gefühl, alle wohnen einfach in diesem schönen Zentrum von Prag oder von Berlin oder von Dresden. Aber man vergisst, dass hunderttausend Prager eigentlich im Plattenbau leben und dass das vielleicht die wahre Stadt ist."
"Man nennt mich Vandam.
Ich wohne in der Betonburg hier. All das Drumherum gab es früher nicht. Nur Wald und Sumpf und Wölfe und Sumpf und Wald. Daher die Mücken. In letzter Zeit werden sie immer mehr. Das ist kein Witz. Manchmal spüre ich, wie der Wald und der Sumpf sich alles zurückholen." (Auszug: "Nationalstraße", S. 23, Jaroslav Rudis auf Tschechisch und dt. Zitator)

Spaziergang durch die Plattenbauten

"Nächste Station: Marzahn"
In Marzahn, dessen Name ursprünglich "Sumpf" bedeutete, steigt Jaroslav Rudis aus und spaziert durch die Plattenbausiedlung. Hier erinnert er sich, wie es letztlich dazu kam, dass ihn ein flüchtiger Prager Bekannter zu seiner Hauptfigur Vandam inspirierte, der 1989 die Samtene Revolution ausgelöst haben will, der belesen ist, aber auch voller Vorurteile und Gewalt:
"Er hat mich begrüßt mit so einem Faustschlag in meine Schulter: tack, tack. 'Jara?' - 'Ja?' - 'Du übst. Du übst.' Ich sagte: 'Na ja, so ein bisschen. Jeden Tag ein paar Liegestützen.' Und da sagt er: 'Ja, und wie viele machst du so?' Sag ich: 'An die 30.' Und dann sagt er: 'Mach dreimal 30. Und dann weißt du, wie das ist, wenn du in einer Schlägerei gewinnen kannst.'"
Die Begegnung, die Rudis 2013 im Roman "Nationalstraße" verarbeitete, trug sich in einer Prager Kneipe zu. In dem klugen, packenden Roman hält sich Vandam, der Schläger und selbsternannte Sheriff mit krudem bis rassistischem Gedankengut, vor allem in einer Kneipe der Plattenbausiedlung auf, die er nie verlassen hat:
Jaroslav Rudis betritt die "Biertulpe" im Marzahner Plattenbau. Am Tresen sitzen drei Männer, als säßen sie immer dort. Ein großes Deko-Schwein liegt auf der Fensterbank. Die Wirtin bringt dem tschechischen Autor ein Glas Bier:
"Es ist echt schwer, in Berlin an ein gutes Bier zu kommen. Aber mal gucken, wie das hier schmeckt!"
"Ist doch alles nur Spaß. Ich bin ein Römer. Kein Nazi. Warum sollte man in Europa nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen, Mann? (...)
Heil dem Volk!
Heil Europa!
Wir sind Europäer!
Neger raus."
(Auszug: "Nationalstraße" (S. 65/66), Jaroslav Rudis auf Tschechisch und dt. Zitator)
Absurde Panik und Angst
Jaroslav Rudis: "Für Tschechien haben sich etwa nur 200 Flüchtlinge entschieden. Es gibt keine Flüchtlinge bei uns. Es gibt keine Muslime, sehr wenige. Aber diese Panik und diese Angst ist so enorm und so absurd, dass natürlich dieses Buch jetzt aktueller gelesen wird."
Jaroslav Rudis hat die Kneipe verlassen und ist auf dem Rückweg zur S-Bahn-Station Marzahn:
"Vielleicht war ich sogar ein bisschen naiv, weil ich dachte, wir sind doch zu besseren Menschen oder Europäern geworden mit der Wende. Aber vielleicht ist alles nur eine Täuschung. Vielleicht sind wir wirklich in der Tat immer die Gleichen, also nicht so weit entfernt von unseren Vätern oder Großvätern. Ja, schon traurig!"
In der S-Bahn heitert sich die Stimmung von Zugliebhaber Rudis wieder etwas auf. Während die Plattenbauten am Fenster vorbeiziehen, erzählt er, er habe noch Hoffnung, dass Europa doch nicht untergehe. Ganz im Gegensatz zu seiner Hauptfigur, dem Dachlackierer Vandam:
"Wenn ich den Dachrand anfasse, spüre ich, wie er vibriert, wie alles hier langsam in den Sumpf zurücksinkt. Ehrenwort.
Ich freue mich auf den Untergang.
Der Untergang ist mein Ziel."
(Auszug: "Nationalstraße", S. 119, Jaroslav Rudis auf Tschechisch und dt. Zitator)

Jaroslav Rudis: Nationalstraße
Roman
Aus dem Tschechischen von Eva Profousová
Luchterhand Verlag, München: 2016
159 Seiten, 14,99 Euro

Der Schriftsteller Jaroslav Rudis startet am Tag des Erscheinens der deutschen Übersetzung von "Nationalstraße" auf Lesereise: Leipzig (29.2.), Berlin (3.3.), Köln (12.3.), Bremen (14.3.), Wuppertal (15.3.), Leipzig (18.3.), Frankfurt (22.3.), Rostock (31.3.)

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