Per Leo: Flut und Boden
Klett-Cotta, Stuttgart 2014
352 Seiten, 21,95 Euro
Quer durch die Zeiten
Die Geschichte einer Reederfamilie aus Vegesack bei Bremen setzt den Rahmen für Per Leos Roman. Er erzählt von den Wirkungen der Goethe-Verehrung oder der Nazi-Zeit bis ins Heute. Ein eindringliches und überzeugendes Buch.
Der Titel dieses Buches ist allzu albern, der Untertitel führt sogar in die Irre. Das Buch selbst aber gehört unbedingt zu den interessantesten Neuerscheinungen dieses Frühjahrs.
"Flut und Boden“ hat der 42-jährige Autor Per Leo, der zuvor mit einem Sachbuch über Ludwig Klages hervorgetreten ist, seinen ersten Roman genannt – und man möchte niemandem widersprechen, dem das allzu kalauernd erscheint. Vor allem bei diesem Buch, das sich zu einem großen Teil um die Nazivergangenheit dreht.
Der Untertitel lautet "Roman einer Familie“, und das weckt auch noch falsche Assoziationen. Es handelt sich hier nämlich keineswegs um einen klassischen Familienroman, der mit realistischen Mitteln von drei Generationen erzählt, wie das Muster der "Buddenbrooks“ es vorgibt. Per Leo erzählt vielmehr über Recherchen und essayistische Einschübe, und er versucht gar nicht erst, das Material seiner eigenen Familiengeschichte literarisch zu verkünsteln.
Ein weit ausholender Erinnerungsraum
Ein Roman ist es dennoch, im Sinne einer literarischen Bearbeitung eines weit ausholenden Erinnerungsraums, die die eigenen Antriebe und ihre gesellschaftlichen Rahmenbedingungen stets mitreflektiert. Die Geschichte einer Reederfamilie aus Vegesack bei Bremen setzt den Rahmen. Berührt werden die Wandervogelbewegung und Goethe-Verehrung am Beginn des 20. Jahrhunderts, die geisteswissenschaftlichen Hintergründe der Nazizeit, ein Universitätsseminar, das der Autor bei Ulrich Herbert, einem Doyen der Holocaustforschung besuchte, und auch die aktuelle Verehrung des Fußballvereins Werder Bremen. Es ist ein weiter Bogen, den Per Leo da aufruft.
Im Zentrum des Romans steht ein unterschiedliches Brüderpaar. Aus Friedrich, dem Großvater des Erzählers, wird ein überzeugter SS-Mann, der unter den Nazis Karriere macht. Seinen Lebensweg zeichnet Per Leo sorgfältig nach: die rebellischen Ansätze gegen das Elternhaus; die scheiternden Versuche, zwischen den Kriegen beruflich Grund unter die Füße zu bekommen. Das Verstehen des Großvaters ist in diesem Roman allerdings keineswegs mit Verzeihen verbunden, ganz und gar nicht.
Passagen, die man nicht mehr vergessen wird
Friedrichs Bruder Martin, der Großonkel, entwickelt dagegen künstlerische Interessen und, damit verbunden, einen inneren Schutzwall gegen das politisch-gesellschaftliche Geschehen. Quer durch die Zeiten denkt sich Per Leo in beide Brüder hinein, liest die teils kruden Traktate, die sie hinterlassen haben, redet mit ihren Nachkommen – und kann vor allem von diesen Recherchen in einer lebendigen, zupackenden Prosa berichten.
Erzählerisch stößt man immer wieder auf unglaublich eindringliche Passagen. Das Turmzimmer mit der schönen Aussicht im Familienanwesen in Vegesack, die Begegnung mit einer Uni-Psychologin, die beim Erzähler typische Symptome eines Nazi-Enkels diagnostiziert, die Schilderungen über die Wichtigkeit des Gesangs in einem protestantischen Haushalt – das alles sind Passagen, die man bei diesem überzeugenden Versuch, von historischen Begebnissen und ihren Auswirkungen bis in die Gegenwart hinein zu erzählen, nicht mehr vergessen wird.