Joseph Conrad: Lord Jim
Aus dem Englischen von Manfred Allié
Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2014
492 Seiten, 22,99 Euro
Schuld als Schatten
Im 19. Jahrhundert erschienen, aber verblüffend aktuell ist der Roman "Lord Jim" von Joseph Conrad über einen Offizier, der seinen Dampfer im Stich lässt - wie der Kapitän der Costa Concordia. Er ist jetzt in neuer, modernisierter Übersetzung erschienen.
Die Geschichte dieses im Jahr 1900 erschienenen Romans und seines moralisch zweifelhaften Helden ist verblüffend aktuell. Sie erinnert an das Schicksal des vor zweieinhalb Jahren havarierte Kreuzfahrtschiffs Costa Concordia, das kürzlich geborgen werden konnte. Vor allem aber erinnert Joseph Conrads berühmter Roman "Lord Jim“ an das unwürdige Verhalten des Kapitäns der Costa Concordia. Um sich selbst in Sicherheit zu bringen, flüchtete er von dem sinkenden Schiff auf ein Rettungsboot und hinterließ die Passagiere ihrem Schicksal: Ein elementarer Verstoß gegen die maritime Moral.
Nichts anderes ist es, was sich Lord Jim zu Schulden kommen lässt. Er ist der Erste Offizier der "Patna“, eines heruntergekommenen Dampfers, der, überladen mit Pilgern, im Jahr 1880 die Reise von Singapur Richtung Mekka antritt. Bei Unglück auf offener See verlässt die gesamte Besatzung, darunter der Erste Offizier, das Schiff, um nicht mit den Pilgern zu ertrinken. Während der italienische Kapitän der realen Costa Concordia bis heute jede Schuld leugnet, stellt sich der literarische Lord Jim allerdings der Verantwortung. Er hofft, seine Schuld durch einen juristischen Prozess begleichen zu können.
Chance auf Läuterung
Im Gerichtssaal lernt er Charles Marlowe kennen. Er ist der neutrale Erzähler des Romans, ein Mann, der den Lesern Joseph Conrads auch aus drei anderen Abenteuerklassikern "Herz der Finsternis“, "Jugend“ und "Spiel des Zufalls“ als Erzähler bekannt ist. In der Rahmenhandlung berichtet Charles Marlowe einen Abend lang mündlich seine Version der Tragödie um Lord Jim. Zugleich greift er im zweiten Teil des Romans in die Binnenhandlung ein. Er vermittelt Jim, der von seiner Schuld wie von einem Schatten verfolgt wird, an einen reichen Kaufmann, der ihn auf eine abgelegene Südseeinsel schickt. Er soll die Eingeborenen vor einem korrupten Malaien-Häuptling und dessen Bande beschützen. Für Jim ist diese Aufgabe ein letzter Versuch der Läuterung und der Sühne. Aber er scheitert, er kann den Angriff eines Seeräubers auf die Inselhauptstadt nicht abwehren und begibt sich in selbstmörderischer Absicht in ihre Schusslinie.
Ein mysteriöser Kern
Joseph Conrads Roman "Lord Jim“ galt bereits bei seinem Erscheinen als überaus rätselhaftes, verschachteltes und multiperspektivisches Romanwerk, dessen mysteriöser Kern sich nie ganz erschließt. In zahlreichen Dialogen, Vor- und Rückblicken wird das psychologische Drama Jims immer neu beleuchtet und widersprüchlich gedeutet. Wie kaum einem anderen Schriftsteller der frühen Moderne gelingt es Joseph Conrad auch hier, die Natur, das Meer und den Dschungel, als Folie einer albtraumhaften Atmosphäre zu gestalten, in der einsame, romantische Helden sich verlieren und unaufhaltsam ihrem Untergang entgegen gehen.
"Lord Jim“ wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt. Die bislang gebräuchliche Übersetzung wurde in achtziger Jahren von Elli Berger vor- und seitdem wiederholt neu aufgelegt. Nun hat der renommierte Anglist Manfred Allié, der unter anderem Patricia Highsmith, Jane Austen, Richard Powers übertrug, sich an eine neue Version gemacht, die den Ton Joseph Conrads aushärtet, modernisiert und das Konkrete dem Bildlichen bevorzugt.