António Lobo Antunes: Kommission der Tränen
Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann
Luchterhand Literaturverlag, München 2014
380 Seiten, Euro 22,99
Stimmengewirr aus Angola
Der portugiesische Schriftsteller António Lobo Antunes schreibt wieder über sein literarisches Lebensthema: die portugiesische Kolonial-Vergangenheit von Angola. Der Autor war über zwei Jahre als Militärarzt im Krieg in Angola tätig - ein Erlebnis, was er in fast allen seinen Romanen bearbeitet, so auch in "Kommission der Tränen".
Der portugiesische Schriftsteller und Arzt António Lobo Antunes war während des Kolonialkrieges Militärarzt in Angola und arbeitete danach als Psychiater in einem Lissabonner Krankenhaus. Die kolonialen Mythen und Machtphantasien Portugals beschäftigen diesen Autor immer wieder aufs Neue. Vor allem der Kolonialkrieg in Angola ist ein wiederkehrendes Thema in seinem Erzählkosmos. Lobo Antunes hat diese vierzig Jahre Befreiungskrieg und Bürgerkrieg, die Angola am Boden zerstört hinterließen, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven erzählt. In "Kommission der Tränen", seinem 23. Roman, macht er abermals Angola (neben Lissabon) zum Schauplatz einer Geschichte über die Nachwehen des Kolonialismus während und nach dem Bürgerkrieg, in dem sich linke Guerillas und pro-westliche Rebellen-Milizen fast drei Jahrzehnte lang zerfleischten.
Erzählt wird die Geschichte vornehmlich aus dem Bewusstsein Cristinas, einer etwa vierzigjährigen Frau, die in Angola geboren, aber mit ihren Eltern, einem schwarzen Vater und einer weißen Mutter, 1977 vertrieben wurde und seit ihrem fünften Lebensjahr in Lissabon lebt, zwischenzeitlich immer wieder in einer psychiatrischen Klinik, denn sie wird von Stimmen heimgesucht. Nicht nur die Blätter an den Bäumen sprechen zu ihr; die angolanische Vergangenheit peinigt sie mit einem wahren Stimmengewirr, in dem die Schreie von Soldaten und herumrennenden Schwarzen sich mit Schüssen und den Stimmen der Eltern vermischen und Erinnerungen sich verheddern und mit Traumbildern und Halluzinationen verfließen. Wie in seinen vorangehenden Büchern bleibt Lobo Antunes auch in diesem Roman seinem eigentümlichen narrativen Verfahren treu, den Erzählstrang zu eliminieren und den Plot in ein polyphones Stimmengewirr aufzulösen. Was genau in den Romanen dieses Autors passiert, lässt sich nie mit letzter Sicherheit sagen.
Unglücklicher Kunstgriff des Autors
Umso weniger, als die mit Medikamenten betäubte Cristina in ihrer Verwirrung eine unzuverlässige Erzählerin ist. Sie ist eine Art Medium, überschüttet von Stimmen, "die mir dies hier in sich überstürzenden Reden diktieren". Der Realitätsgrad der Stimmen, die den Roman konstituieren, bleibt daher von vornherein unklar. Die politischen Vorgänge im postkolonialen Angola und die blutigen Wendungen im Bürgerkrieg bleiben verschwommen und tauchen nur als gelegentliche undeutliche Anspielungen auf.
Die Stimmen in Cristinas Kopf fallen sich gegenseitig ins Wort, oft mitten im Satz. Der Leser muss raten, welche Romanfigur sich jeweils hinter all diesen "Ich" sagenden Stimmen verbirgt. Die Grenzen zwischen den Zeitebenen, Orten und Identitäten verschwimmen. Eine verwirrte und geistesabwesende Frau zur zentralen Gewährsperson seines Romans zu machen, erscheint als unglücklicher Kunstgriff des Autors: Cristinas Perspektive ist zu beschränkt für das komplexe Thema der sozialen, politischen und ethnischen Verwerfungen im nachkolonialen Angola. So bietet Lobo Antunes in diesem Spätwerk nur noch ein schwächliches Recycling der großen Themen und Motive seines Lebenswerks, die hier eher zerstreut als gebündelt werden.