Utopie und Depression
Von den 1930er-Jahren bis zur Occupy-Bewegung heute: Im Roman des US-Autors Jonathan Lethem überlagern sich politische und private Generationenkonflikte.
Musik: Beastie Boys, "Sabotage"
Jonathan Lethem: "Ich traue dem Historischen Roman nicht. Es ist eine Illusion zu glauben, die Vergangenheit warte nur darauf, von uns untersucht zu werden. Als öffnete sich ein Vorhang und wir blicken dann auf die Zeit von 1930. Und dann die 40er- und die 50er-Jahre."
Musik: Beastie Boys, "Sabotage"
"Ich wollte stattdessen über die Vergangenheit schreiben, so wie ich sie erlebe, das bedeutet, es findet eine Auseinandersetzung statt, die Vergangenheit wird zum Problem. Erinnerungen stürzen auf dich ein wie ein plötzlicher Anfall."
Originalton aus Martin Luther Kings Rede "I have a Dream"
Lethem: "Martin Luther Kings ʼI have a Dreamʼ-Rede habe ich bereits als Embryo im Bauch meiner Mutter miterlebt. Das war Ende 1963 und ich wurde Anfang 1964 geboren. Das war also auch mein erstes Bob Dylan-Konzert."
Musik: Bob Dylan, "When the ship comes in"
Der amerikanische Autor Jonathan Lethem hat sehr persönliche Beziehungen zur Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre. Seine Eltern waren zu dieser Zeit sehr stark engagiert im Kampf gegen Rassismus. Auch während der Schwangerschaft von Lethems Mutter nahmen sie deshalb 1963 am berühmten Marsch auf Washington teil und sie hörten dort sowohl Martin Luther Kings Epoche machende Rede wie auch Bob Dylans näselnden Gesang.
Musik: Bob Dylan, "When the ship comes in"
Lethem: "Ich bin in dieser Atmosphäre von Protest und Aktivismus aufgewachsen. Im trotzigen aber auch angenehmen Gefühl, Teil einer rebellischen und andersdenkenden Bevölkerung zu sein."
In seinem neuen Roman "Der Garten der Dissidenten" nimmt Jonathan Lethem die politische Tradition seiner eigenen Familie zum Anlass, erstmals Politik zum Kernthema eines seiner Bücher zu machen. Er beschreibt eine Familiengeschichte über mehrere Generationen hinweg und geht dabei zurück bis in die 1930er-Jahre. Über neun Jahrzehnte bis fast in die Gegenwart hinein entwirft Lethem anhand seiner Figuren eine Geschichte der politischen Linken in den USA. Das Spektrum reicht von eingeschworenen Mitgliedern der kommunistischen Partei in der Zeit zwischen den 1930er- und 50er-Jahren bis hin zu den jungen Teilnehmern der Occupy-Bewegung der Jahre 2011 und 2012. Sowohl im Roman wie auch in Lethems eigenem Leben verlief die Weitergabe linker Ideale von einer Generation zur nächsten aber nicht ohne Brüche.
Lethem: "Für mich war diese Tradition des politischen Engagements sowohl ein Geschenk als auch eine Bürde. Meine Eltern waren immer politisch aktiv, während ich das nicht in kontinuierlicher Form bin. Stattdessen arbeiten meine Überzeugungen in mir und sprudeln in unzusammenhängender Weise aus mir heraus."
Während der Abfassung seines neunten Romans war Lethem selbst Ende 40. Das scheint für ihn ein guter Zeitpunkt gewesen zu sein, um einen neuen Blick auf die politischen Ideale seiner Eltern und Großeltern zu werfen.
Musik: Charles Mingus, "Haitian Fight Song"
Lethem: "Dieser Wendepunkt von den 50ern zu den 60ern war für mich sehr fruchtbar. Er passte zum Leben meiner Großmutter und meiner Mutter. Diese Verschmelzung einer persönlichen Auseinandersetzung zwischen Mutter und Tochter einerseits sowie andererseits dem totalen Zerwürfnis zwischen der Neuen Linken der 60er-Jahre und den alten peinlichen Kommunisten schien mir ein sehr guter Stoff zu sein."
Die beiden Kontrahentinnen dieser Auseinandersetzung sind Rose Zimmer und ihre 17-jährige Tochter Miriam. Bis zum Ende der 1950er-Jahre und der Abnabelung ihrer Tochter hat Rose Zimmer bereits einige politische wie auch persönliche Rückschläge hinnehmen müssen. Rose ist langjähriges Mitglied der kommunistischen Partei. Hier hat sie ihren Mann Albert Zimmer kennengelernt, der wie sie selbst als redegewandter Parteiagitator unterwegs ist. Die Geburt ihrer gemeinsamen Tochter Miriam im Jahr 1940 unterminiert Roses Stellung als selbstbewusste Frau allerdings erheblich. Wie andere Männer seiner Generation kümmert sich auch der Genosse Albert Zimmer wenig um die Belange seiner Tochter und die Führung des Haushalts. Ihre konfliktreiche Ehe endet schließlich, weil Albert im Auftrag der kommunistischen Partei nach Deutschland zurückkehrt. Ohne Reue verlässt er seine Frau und sein kleines Kind.
Lethem:"Rose lebt in einem ständigen Kleinkrieg mit alltäglichen Zwängen. Für sie ist das genauso schlimm wie die politischen Katastrophen, die ihre Ideale ankratzen. Sie erlebt in kurzer Zeit so viele Niederlagen, dass sie sich davon nie erholt."
Musik: Woody Guthrie, "This Land is your Land"
In den ersten Jahren ihrer Ehe und in der Zeit davor hat Rose am politischen Aufschwung der kommunistischen Partei in den 1930er-Jahren teilgenommen. Im Zeichen der Volksfront suchte die Kommunistische Partei die Zusammenarbeit mit Gewerkschaften und linken Intellektuellen. Aber bereits 1938 erlitt dieser gemeinsame Kampf aller linken Kräfte gegen die Folgen der Weltwirtschaftskrise und den aufkommenden Faschismus eine empfindliche Schwächung. Dass ausgerechnet Stalin mit Hitler einen Nichtangriffspakt abschloss, machte die Kommunistische Partei unglaubwürdig.
Musik: Artie Shaw, "Nightmare"
Noch stärker wandelte sich das Klima für eine linke Politik nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Mit dem Beginn des Kalten Krieges setzte in den USA die Kommunistenjagd ein. Der "Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten" und Senator McCarthy verfolgten unerbittlich reale oder vermeintliche Mitglieder der kommunistischen Partei. Mehr noch als diese Anfeindungen von außen waren aber parteiinterne Entwicklungen für das umfassende Gefühl der Enttäuschung verantwortlich, das viele Anhänger der kommunistischen Partei befiel.
O-Töne aus den Anhörungen des "Ausschuss für unamerikanische Aktivitäten": "Are you now or have you ever been a member of the communist party?"
Lethem: "Dieser Dreh- und Angelpunkt erregte zuerst mein Interesse: Seit Mitte der 1950er-Jahre waren die enttäuschten Mitglieder der kommunistischen Partei schon auf dem Absprung, als die Partei 1956 durch Chruschtschows Enthüllungen über Stalins Verbrechen noch weiter in Misskredit geriet. Dann folgte eine Art von Depression, alle verschwanden im Untergrund, und die Bewegung schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Natürlich war das nicht so. Viele Menschen blieben trotz dieser Enttäuschungen weiterhin politische Träumer."
Roses politische Niederlagen gipfeln schließlich in ihrem Ausschluss aus der kommunistischen Partei. Der Grund für ihren Rauswurf könnte nicht absurder sein: Nachdem sie von ihrem Mann verlassen wurde, hat Rose einen verheirateten Liebhaber und der ist schwarz. Obwohl die kommunistische Partei für die Gleichberechtigung von Afroamerikanern eintritt, ist Roses Liebhaber für ihre Parteioberen nicht tragbar.
Lethem: "Sie hat sich den falschen schwarzen Liebhaber ausgesucht: Polizist und noch dazu Republikaner. Er steht für Autorität und Kontrolle. Aber ist da vielleicht auch ein Funken Rassismus selbst bei Menschen, die für Gleichberechtigung eintreten? Na klar!"
Nachdem Rose von ihrem Mann verlassen und aus der kommunistischen Partei ausgeschlossen wurde, wendet sich als Krönung ihrer privaten Rückschläge auch noch ihre eigene Tochter von ihr ab. Miriam inszeniert ihren Abschied, indem sie sich zu Hause in ihrem Zimmer von Rose erwischen lässt, während sie nackt mit einem jungen Mann im Bett liegt. Rose steigert sich deshalb in eine nicht enden wollende Inszenierung als leidgeprüfte Mutter hinein. Als Höhepunkt steckt Rose vor den Augen von Miriam ihren Kopf in den Gasherd und stellt das Gas an.
Zitat aus Jonathan Lethem, "Der Garten der Dissidenten", S. 61/62:
"Das sind doch Rückzugsgefechte, Mutter. Sollten Männer und Frauen gemäß deinen revolutionären Blaupausen für ihre Leben nicht gleichermaßen verantwortlich sein? Oder landen diese Blaupausen jetzt auch im Herd?"
"Rückzugsgefechte?", schrie Rose. Wie ein Tier, das aus einem Bau herausschießt, in dem es auf einen feindlich gesonnenen Bewohner gestoßen ist, kam Rose aus dem Herd hervor. Noch auf den Knien riss sie Miriam zu Boden. Rose stieß Miriams Kopf in den Herd. Miriam ließ es willig geschehen. Vielleicht spielte es eh keine Rolle mehr, die ganze Küche war ja schon voll Gas.
Vielleicht wollte Rose Miriam prüfen. Vielleicht prüfte auch Miriam sie, indem sie sich nicht wehrte: Als sich Roses Schraubstockgriff sofort wieder lockerte, redete sie sich zumindest ein, sie hätte sich gewehrt, wäre nicht von suizidaler Hilflosigkeit gewesen. Miriam sank ihrer Mutter in den Schoß, als sie beide nach hinten kippten und Miriams Kopf beim Herauskommen noch gegen die Oberseite des Herds prallte. "Du würdest das machen, du würdest sterben, bloß um mich loszuwerden", stöhnte Rose.
"Rückzugsgefechte?", schrie Rose. Wie ein Tier, das aus einem Bau herausschießt, in dem es auf einen feindlich gesonnenen Bewohner gestoßen ist, kam Rose aus dem Herd hervor. Noch auf den Knien riss sie Miriam zu Boden. Rose stieß Miriams Kopf in den Herd. Miriam ließ es willig geschehen. Vielleicht spielte es eh keine Rolle mehr, die ganze Küche war ja schon voll Gas.
Vielleicht wollte Rose Miriam prüfen. Vielleicht prüfte auch Miriam sie, indem sie sich nicht wehrte: Als sich Roses Schraubstockgriff sofort wieder lockerte, redete sie sich zumindest ein, sie hätte sich gewehrt, wäre nicht von suizidaler Hilflosigkeit gewesen. Miriam sank ihrer Mutter in den Schoß, als sie beide nach hinten kippten und Miriams Kopf beim Herauskommen noch gegen die Oberseite des Herds prallte. "Du würdest das machen, du würdest sterben, bloß um mich loszuwerden", stöhnte Rose.
Miriam treibt ihre Abnabelung von Rose konsequent weiter, indem sie durchsetzt, ihren Vater Albert Zimmer in der DDR besuchen zu dürfen. Jonathan Lethem erzählt diese Geschichte in seinem Roman allerdings nicht in linearer Form. Im Buch erfahren die Leser erst im Rückblick und in einem viel späteren Kapitel Genaueres über Miriams Besuch bei ihrem Vater und ihre Konfrontation mit dem real existierenden Sozialismus. Mit dieser fragmentierten Erzählweise möchte sich Lethem von einer naiven Sicht auf die Vergangenheit absetzen, die er in historischen Romanen oft am Werk sieht:
"Ob in Familien oder in der kollektiven Geschichte, Vergangenheit ist immer nur als kurzes Eintauchen in subjektive Standpunkte zu erfahren, die man erst für sich selbst zu einem sinnvollen Ganzen formen muss. Genau mit diesem Problem konfrontiert das Buch die Leser."
Musik: "Das Lied der Partei"
Miriams Besuch bei ihrem Vater wird in Lethems Roman in der Rückschau aus einigen Briefen rekonstruiert, die sich Vater und Tochter nach Miriams Rückkehr in die USA geschrieben haben. Das Kapitel heißt "Aus den Stasiakten". Nicht ohne Humor lässt Lethem die Briefe nämlich im Archiv der Staatssicherheit der ehemaligen DDR enden, weil der Geheimdienst von Anfang an mitgelesen hat. Da Albert Zimmer nach seiner Rückkehr selbst als Spion für die Partei gearbeitet hatte, lieferte er auch eigenhändig Durchschläge seiner Briefe an die Staatssicherheit ab. Eine linke Utopie, die in Bürokratie erstarrt ist – diese Haltung könnte in keinem größeren Gegensatz zur Figur der jungen Miriam in Lethems Roman stehen. Miriam entwickelt sich nämlich im Verlauf der 60er-Jahre zu einem echten linken Hippie. In einem Brief an ihren Vater fällt sie schließlich im Rückblick ein vernichtendes Urteil über ihn.
Zitat aus Jonathan Lethem, "Der Garten der Dissidenten", S 314-316:
"Der springende Punkt ist, dass der unverbesserliche Stalinismus für Dich gar nicht das Wesentliche war. Du glaubst vielleicht, mit Deinem neuen Leben in Dresden kannst Du Lübeck wieder in den Arsch kriechen, dabei haben sie Dir auch die Buddenbrooks weggebombt, Dad. Tut mir wirklich leid. Du hast es in der Neuen Welt einfach nicht gepackt, stimmt's? Du warst nicht zu kommunistisch für Amerika, Du warst zu deutsch."
Musik: Jimi Hendrix, "Purple Haze"
Wenn Miriam ihrem Vater seinen rückwärtsgewandten Blick vorwirft, könnte man das zumindest teilweise als das Credo ihrer gesamten Generation in den 1960er-Jahren bezeichnen.
Musik: Jimi Hendrix: "Voodoo Child"
Lethem: "Die 60er-Jahre waren weniger historisch und ideologisch geprägt. Sie waren gewissermaßen amerikanischer, weil ein wohltuender Gedächtnisverlust vorherrschte. Diese Vorstellung war typisch für das Leben in Amerika: Neubeginn, Überkommenes zurücklassen."
Musik: Jefferson Airplane, "Don't you want somebody to love"
Miriam heiratet den eher ziellosen Folksänger Tommy Gogan. Mit ihrem politischen Elan gibt sie seinen Liedern eine neue soziale und politische Ausrichtung. Auch wenn Lethems Vater kein Folksänger ist, sondern bildender Künstler, haben Miriam und Tommy einiges mit Lethems Eltern gemeinsam. Beide Paare verkörpern den neuem Politikstil der 1960er Jahre.
Musik: Santana, "Waiting"
Lethem: "In den 60er Jahren entwickelte sich die sogenannte Neue Linke. Meine Eltern nahmen intensiv an dieser Periode teil. Zuerst fallen einem dazu Begriffe ein wie Gegenkultur, sexuelle Revolution, Drogen und Rock'n Roll, aber diese Zeit verfügte auch über enorme politische Energien. Diese waren zwar oft sehr disparat, aber doch auch sehr lebendig und effektiv. Sie bezogen sich aber nicht ausdrücklich auf die kommunistische Tradition in Amerika."
Obwohl die Hippie-Generation mit ihren neuen Agitations- und Lebensformen das Gefühl hatte, alles anders und neu zu machen, existierten doch beinahe unbemerkt auch Anknüpfungspunkte zur linken Tradition.
Lethem: "Trotz allem profitierten diese politischen Bewegungen unbewusst von den zukunftsweisenden Hinterlassenschaften der 30er-Jahre und der Volksfront sowie der amerikanischen kommunistischen Partei. Dieser Eindruck von Kontinuität und gleichzeitigem totalen Bruch war faszinierend für mich! Denn genauso verhalten wir uns natürlich innerhalb unserer Familien. Wir entwickeln uns im Rahmen des emotionalen, politischen und sozialen Lebens unserer Eltern und versuchen dann, wie eine Art Neue Linke, all das zu vergessen und unser Leben selbst zu erfinden."
Dass diese Abnabelungsprozesse vom Elternhaus sowohl in politischer wie in persönlicher Hinsicht schwierig sind und zu manchen individuellen Widersprüchen führen, zeigt Lethem anhand seiner Protagonistin Miriam.
Musik: Ritchie Havens, "Freedom (Woodstock)"
Lethem: "Miriam ist sehr widersprüchlich. Einerseits gelingt ihr, was Rose sich immer gewünscht hätte, nämlich eine erfolgreiche bürgerliche Ehe. Andererseits möchte sie aber auch ein Super-Hippie sein und das Bild von Freiheit vermitteln. Sie wird deshalb zu einer Art Hausmutter der Kommune, einer älteren Schwester für all die befreiten jungen Frauen. In Wirklichkeit ist sie selbst aber sexuell nicht annähernd so abenteuerlustig wie ihre Mutter."
Nicht nur in ihren Liebesbeziehungen verläuft Miriams Leben ganz anders als das ihrer Mutter, sondern auch in politischer Hinsicht. Miriam und Tommy sterben beim Einsatz für ihre politischen Ziele. Gegen Ende der 1970er-Jahre versuchen sie, abenteuerlustig und naiv zugleich, sich am Kampf der Sandinisten in Nicaragua zu beteiligen und kommen dabei um. Ihr gemeinsamer Sohn Sergius wächst deshalb ab einem Alter von sieben Jahren als Vollwaise in einem Internat der Quäker auf. Mit ihren pazifistischen Idealen und ihrer Tradition gewaltfreien Widerstands waren die Quäker für viele Bürgerechtsaktivisten und Vietnam-Kriegsgegner ein wichtiger Bezugspunkt. Sergius wird von einem seiner Lehrer adoptiert. Jedweder Kontakt zu seiner Großmutter Rose wird unterbunden. Mit Sergius entwirft Lethem jemanden, dem im Gegensatz zur Generation seiner Eltern ein familiärer und politischer Gegenpol vollständig fehlt.
Musik: Gill Scott-Heron / Brian Jackson, "Peace go with you brother"
Lethem: "Sergius ist von der Geschichte abgeschnitten. Wie ein freischwebender Ballon lebt er ohne Wissen oder Erinnerung."
Erst im Jahr 2012, als Sergius bereits Anfang 40 ist, beginnt er eine intensive Suche nach seinen familiären Wurzeln. Da Rose nicht mehr lebt, ist der einzige, der ihm dabei weiterhelfen kann, ausgerechnet kein Mitglied seiner Familie. Cicero Lookins ist mittlerweile 56 Jahre alt und lehrt als Dozent an einem College in Neuengland an der Ostküste der USA. Nach dem Weggang von Miriam hatte Rose den kleinen Sohn ihres afroamerikanischen Liebhabers unter ihre Fittiche genommen.
Musik: Tuxedomoon, "No Tears"
Wie bei allen Figuren des Romans, die mit Rose in Kontakt standen, ist auch Ciceros Verhältnis zu ihr von widerstreitenden Impulsen gekennzeichnet.
Lethem: "Rose ist nicht auszuhalten. Sie verändert dich und öffnet die Welt für dich, aber du musst dich von ihr befreien. Sie ist eine tödliche Falle."
Trotz ihrer spannungsreichen Beziehung haben Cicero und Rose etwas gemeinsam und darin kommt für Lethem eines der zentralen Themen seines Romans zur Sprache:
"Der Preis des Erinnerns und der Preis des Vergessens, darum geht es immer wieder. Cicero ist wie Rose tief in seinem historischen Bewusstsein verankert. Er weiß, er sieht, er kann nicht vergessen. Er wird von seinem Wissen gepeinigt, das alle anderen für ihn so blind aussehen lässt. In ihm zeigt sich die Bedeutung und das Verhängnis des historischen Bewusstseins."
Cicero ist zwar so etwas wie der Vorzeige-Exot seiner Uni: schwul, schwarz und mit Dreadlocks. Aber abgesehen von einem kurzen Abschnitt seines Lebens hat er seine Sexualität nie wirklich ausgelebt. Diese Phase wurde aber schließlich durch das Aufkommen von AIDS abrupt beendet.
Lethem: "Er hat sich zu einer Art lebenden Idee entwickelt. Er ist unfähig, als Körper im Kontext seines gesamten Wissens zu existieren, im Rahmen all der Widersprüche, die er verkörpert und die ihn fesseln. In gewisser Hinsicht ist er eine allegorische Figur für den Weg des Marxismus an die Universitäten, der dort überleben konnte, aber eben nur in theoretischer Form."
Cicero lebt nun allein in einem großen Haus am Meer und fühlt sich dabei wie der Stachel im Fleisch der ansonsten weißen Oberschicht. Cicero wie den anderen Figuren des Romans folgt Lethem bis in die paradoxesten Verästlungen ihrer jeweiligen Persönlichkeit. Lethems Figuren werden gerade durch diese Vielschichtigkeit zu interessanten Charakteren, die sich der Zuneigung ihres Schöpfers gewiss sein dürfen:
"Ich begegne meinen Figuren nie mit Sarkasmus oder Ironie. Ich distanziere mich auch nicht von ihnen oder fühle mich ihnen überlegen. Ich schreibe über sie aus Liebe."
Musik: Gang of Four, "Paralysed"
Dass Lethem seinen Figuren nicht böswillig gegenüber steht, zeigt sich auch anhand der weiteren Entwicklung von Sergius. Überraschend bietet sich auch für ihn die Möglichkeit, an die politische Tradition seiner Familie anzuknüpfen, sozusagen diesen roten Faden wieder aufzunehmen. Jedoch ist der Anknüpfungspunkt nicht Cicero, sondern eine junge Frau, die Sergius kennen lernt. Lydia gehört zu den letzten versprengten Überresten der Occupy-Bewegung, die es auch bis in die verschlafene Kleinstadt von Ciceros College geschafft haben. Im Gegensatz zu "Occupy Wall Street", wo Tausende das ökonomische Zentrum des Landes belagerten, campiert Lydia zusammen mit wenigen Mitstreitern vor dem Rathaus der Stadt. In Lethems Augen stellt die Occupy-Bewegung nicht nur individuell für Sergius, sondern auch politisch für die gesamte amerikanische Linke so etwas wie ein Lebenszeichen oder einen Hoffnungsschimmer dar, auch wenn dieser fast schon wieder verglommen zu sein scheint.
Lethem: "Die Realität von Occupy ist unbestreitbar. Linken Bewegungen haftet das Stigma an, zum Scheitern verurteilt zu sein. Viele Sympathisanten von Occupy wandten sich deshalb sehr schnell ab, sobald die Parks leer waren. So als sei es nur ein dummer Fehler gewesen und hätte nie stattgefunden. Aber genau das ist falsch! Die Stärke von Occupy war, dass es diese Bewegung gab. Von Angesicht zu Angesicht konnten sich die Menschen überzeugen, dass sie nicht allein waren in dem Wunsch nach einer Alternative zu dieser Welt, die sie als Gefängnis empfinden. Das widersprach den offiziellen Verlautbarungen eines triumphalen Kapitalismus, die ständig verkünden, dies sei die einzig mögliche Welt."
Musik: Gang of Four, "He'd send the army"
Entscheidend ist für Lethem dieser Funke der Dissidenz, das kollektiv ausgedrückte Unbehagen am Status Quo und der Wunsch nach einer anderen Form der Gesellschaft. Wichtig ist dieser kleine Funke der Utopie für Lethem vor allem auch angesichts der regelmäßig auftretenden Phasen der Depression und Enttäuschung für die Linke, die er in seinem Roman so eindrücklich geschildert hat. Denn trotz der vielen Rückschläge und enttäuschten Hoffnungen linker Projekte schätzt Lethem deren utopischen Charakter immer noch als sehr wichtig ein:
"Das Trügerische unserer Träume wird nur von deren Notwendigkeit aufgewogen. Noch schlimmer, als von etwas Besserem zu träumen als dem, was wir täglich sehen und fühlen, ist es, gar keine Träume mehr zu haben."