Arnon Grünberg: Der Mann, der nie krank war
Aus dem Niederländischen von Rainer Kersten
Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014
240 Seiten, gebunden, 18,99 Euro
Vom Flugplatz in den Folterkeller
Der niederländische Schriftsteller Arnon Grünberg erzählt in seinem bitterbösen Roman die Geschichte eines Schweizer Architekten, der sich zwischen Bagdad und Dubai aus freien Stücken ins Mahlwerk der neuen Weltordnung stürzt.
Nach knapp der Hälfte möchte man Arnon Grünbergs neuen Roman am liebsten zuklappen und nach Gegengift für sämtliche Sinne suchen. Nach irgendetwas, das die Bilder im Kopf, diese Ikonographie aus Abu Ghraib und "Hatufim", der israelischen Vorläuferserie von "Homeland", überdröhnt.
Gut 90 Seiten lang hat man halb amüsiert, halb beklommen miterlebt, wie ein Schweizer Biedermann unaufhaltsam in die Traufe gerät, weil er zu arrogant-naiv ist, um Regen als Regen zu erkennen. Die Traufe ist ein Folterkeller in Bagdad. Er wird für einen Spion gehalten und mit "Hund" angeredet. Ein Scherge schlägt ihm die Nase ein, sechs entleeren ihre Blasen auf ihn, Essen muss er vom Boden auflecken, was sein Darm sofort flüssig beantwortet: "Jetzt riecht er nicht nur nach dem Urin anderer Leute, sondern auch noch nach seinen eigenen Exkrementen."
Gepackt von der nüchternen, aber assoziationssatten Erzählung blättert man dann doch um. Zum Glück. Denn Rettung naht in Gestalt des Roten Kreuzes und der Schweizer Botschaft. Es geht zurück in die aufgeräumte Schweiz, in der alles so betulich angefangen hatte.
Samarendra Ambani, genannt Sam, sieht sich selbst als Modell-Schweizer, auch wenn er für andere Schweizer nicht unbedingt so aussieht: Das liegt an seinem indischen Vater. Der hatte selbst so sehr dem Schweizer-Klischee nachgeeifert, dass er beim Alpenklettern zu Tode gestürzt war. Sam hat eine katholische Mutter, eine schwerstbehinderte Schwester Aida, ein kleines Architekturbüro in Zürich und neuerdings eine Freundin Nina, die er - doch, ja, irgendwie liebt. Wenn auch nicht ganz so sehr wie Aida und die Architektur.
Indisch aussehender Schweizer als Mossad-Agent
Er kann "sich mühelos in die Perspektive eines jeden beliebigen Auftraggebers versetzen", hält "Geben für das neue Nehmen" und wittert die Chance, der neue Frank Lloyd Wright zu werden, als ihn ein reicher Londoner Exil-Iraker nach Bagdad einlädt, ein Opernhaus zu entwerfen. Dass in seinem Koffer benutzte Kleider von jemand anderem sind, ist zwar unerquicklich, auch dass er partout weder Handynetz noch Internetzugang kriegt und seine seltsamen Bodyguards plötzlich verschwinden - aber egal, er ist ja Schweizer. Das heißt, wo ist denn sein Pass?
Wer jetzt an Kafkas "Prozess" denkt, liegt sicher nicht falsch. Zwar kommt Grünbergs Mann ohne Krankheit nicht mal auf die Idee, dass "jemand ihn verleumdet haben" könnte. Er schiebt alles auf seine schlechte Vorbereitung und düst zum nächsten Auftrag, diesmal nach Dubai, für den Emir eine Bibliothek samt Bunker bauen.
Ansonsten aber ist dieser Sam A. ein Joseph K. der neuen Weltunordnung bis in die Charakterdetails, die Verdoppelungen, das Ende. Entfaltet mit grausamer Komik, so bitterböse wie in Grünbergs "Der jüdische Messias" (dt. 2013), nur milder im Vortrag. Und leider mit einem Plotfehler am Schluss, der hier aber nicht verraten werden darf. Nur soviel: Ein indisch aussehender Schweizer als Mossad-Agent - die Nummer hätte sich vielleicht der Staranwalt in Dubai als glaubwürdig verkaufen lassen, Amnesty International oder Schweizer Diplomaten hätten sie auseinander genommen.