Ihre Straße des Anfangs und des Ankommens
Als die Schriftstellerin Barbara Honigmann 1984 aus der DDR nach Straßburg emigriert, landet sie in der Rue Edel. Dort begegnen ihr jüdische Witwen, Franzosen in Pantoffeln und Menschen aus Afrika, Asien und Osteuropa. "Chronik meiner Straße" erzählt einen Teil ihres Lebens.
Wenn die Zeit reif ist, inszeniert und "zerdichtet" Barbara Honigmann Erlebtes neu. Das Erinnerungsbuch, das die 1984 von Ost-Berlin nach Straßburg emigrierte Schriftstellerin nun vorlegt, brauchte eine "Brachliege-Zeit" von fast drei Jahrzehnten. Als sie mit ihrem Mann und den zwei kleinen Söhnen ins "zweithässlichste Haus" der Rue Edel einzog, war nicht abzusehen, dass die Familie es einmal anders halten würde als die meisten anderen Zugezogenen. Wer eine Bleibe in der baum- und strauchlosen Straße mit den zugemüllten "falschen Einfahrten" gefunden hatte, würde schnellstens versuchen, eine Wohnung in einem besseren Viertel zu mieten. Die Rue Edel, schreibt sie, "scheint eine Straße des Anfangs und des Ankommens zu sein“. Für die Honigmanns wurde sie eine Straße des "Hängenbleibens".
Straße als passender Durchgangsort
Dass die heute 66 Jahre alte Schriftstellerin und Malerin, auf deren Balkon die russischen Spielzeugautos ihrer längst ausgezogenen Söhne weiter rosten, diesen Status ganz und gar bejaht, begreift man schnell. Barbara Honigmann wollte nie zurück nach Berlin, doch Zugehörigkeit zu Frankreich konnte sie auch nicht entwickeln. So erwies sich die heruntergekommene Straße als passender Durchgangsort für sie, die ein ausgeprägtes Gespür für alles Vergängliche hat und ihr Leben, eigentlich die Existenz eines jeden, als zutiefst unbehaust empfindet.
Aufmerksam und unsentimental wird die Rue Edel beschrieben, von der Kaserne am nördlichen Ende hinunter zu einer internationalen Schule. Dazwischen liegen unter Denkmalschutz stehende Sozialwohnungen, eine Kinderkrippe, die nachts von friedlichen Dealern umlagert wird, von Kurden und Algeriern gepachtete Läden, ein chinesisches Restaurant, dessen Besitzer ermordet wurden, eine Schuhmacherwerkstatt, die erst von einem Ungarn geführt, dann von einem Türken und schließlich von Elsässern übernommen wurde.
Die allerdings verbindet ihr Minderheitendünkel auch nur mit dem "anderen Frankreich", das sich über die mehrheitlich aus Afrika, Asien und Osteuropa stammenden Anwohnerschaft erhebt. Das "andere Frankreich" sind Franzosen, die in Pantoffeln über die Trottoirs schlurfen. Ein aus der Welt gefallenes Prekariat. Nicht besser oder schlechter als jene, die ihre Identität allzu stolz vor sich hertragen und von der Autorin nur die "Innerfranzosen" genannt werden.
Schon hatte das Viertel seinen Namen
Warmherzig schildert Barbara Honigmann ihre Beziehung zu drei jüdischen Witwen und einer jungen deutschen Nachbarin, die eines Tages Mann und Kind verließ. Mit den Jahren zogen mehr jüdische Familien in die Straße. Ein Bet- und Lehrhaus wurde in der Nähe eingerichtet, und schon hatte das Viertel seinen Namen als "zweites Ghetto" weg. Honigmann hält sich gar nicht auf mit derlei Zuschreibungen, gesteht dem Leser aber doch ihre Angst vor Konfrontationen mit nichtjüdischen Nachbarn. Während des Laubhüttenfestes speisen Juden an acht Tagen in einer "Sukke".
In den Städten werden die nur mit Zweigen besteckten Hütten auf großen Balkonen oder auch auf öffentlichen Plätzen errichtet. Peter Honigmann wagte es, im Hinterhof eine Hütte zu bauen. Für seine Frau ist das belaubte Provisorium das ideale Sinnbild für die "Löchrigkeit" menschlichen Lebens. Dass man den Honigmanns ihren Brauch ließ, scheint die Autorin vollends auszusöhnen mit dem Wohnen in einer Straße, die "nach überall hin offen und doch ein bisschen geschlossen" ist. Es gelingt ihr, scheinbar leicht, unsere Sinne für den "kleinen Weltraum" und perfekten Durchgangsort am östlichen Rand von Straßburg zu öffnen.
Barbara Honigmann: "Chronik meiner Straße"
Carl Hanser Verlag, München 2015
152 Seiten, 16,90 Euro
Barbara Honigmann: "Chronik meiner Straße"
Carl Hanser Verlag, München 2015
152 Seiten, 16,90 Euro