Roman von Esther Dischereit

Den Demütigungen der Kindheit nachspüren

Unbewohnte Zelle in der Justizvollzugsanstalt Gelsenkirchen
Das großgesichtige Kind wuchs in einer psychiatrischen Anstalt auf © dpa / Marius Becker
Von Sigrid Brinkmann |
Mit ihren Romanen und Hörspielen hat sich Esther Dischereit als einflussreiche Autorin etabliert. Ihre neue Erzählung handelt von einer krebskranken Frau und ihren Erinnerungen an die Zeit als "großgesichtiges Kind".
Die Lyrikerin, Essayistin und Erzählerin Esther Dischereit hat Erfahrung mit Klangkunst im öffentlichen Raum. Im münsterländischen Dülmen erinnert ihr akustisches Denkmal "Eichengruenplatz" mit 55 Text- und Musikstücken Passanten wie Ausruhende an den Alltag der einst jüdischen Bewohner des Städtchens. 2014 konnte man ihr jüngstes Klangzeichenwerk im Wiener Museumsquartier erleben. Aus dem Material, das die Autorin dort für eine Installation in der 2006 eingerichteten Tonspur-Passage verwandte, schuf sie die Erzählung "Grossgesichtiges Kind".
Die deutsch-englische Publikation erscheint in einer ambitioniert gestalteten Buchreihe der Universität für Angewandte Kunst in Wien (Edition Angewandte). Auf dem Cover abgedruckt sind Satzreihen. Schwarze Balkon löschen drei Dutzend Wörter aus dem Textkorpus. Die übrig gebliebenen Substantive springen einem derart ins Auge, dass man sie sofort memoriert und bei der Lektüre leicht erkennt, dass Raumobjekte wie "Treppen, Geländer, Gitter" oder "Gänge, Linoleum" das enge Sichtfeld des großgesichtigen Kindes bestimmten.
In einem emotionslos gehaltenem Ton verschränkt die Autorin Kindheitserlebnisse des grossgesichtigen Mädchens mit Situationen, die es als ältere Frau bewältigen musste. Esther Dichereit wählt die auktoriale Perspektive und gliedert die Szenen aus dem Leben der Protagonistin in 19 große Abschnitte.
Aufgewachsen als Tochter einer verfolgten deutschen Jüdin
Das großgesichtige Kind wuchs als Tochter einer einst verfolgten deutschen Jüdin und eines österreichischen Medizinalrates in einem der vielen Gebäude einer psychiatrischen Anstalt auf. Vereinzelte Beschreibungen legen nahe, dass mit der Anstalt das heutige Otto-Wagner-Spital in Wien gemeint ist. Dessen Gelände war früher unter dem Namen "Spiegelgrund" bekannt. Eine Gedenkstätte zur Geschichte der NS-Medizin erinnert heute an die dort begangenen Euthanasiemorde.
Fünfzig Jahre später befindet sich das grossgesichtige Kind auf der onkologischen Station eines Klinikums. Das Kind ist Frau, ist "sie" geworden. Wenn "sie" einer der kahlköpfigen Patientinnen ins Gesicht schaut, muss sie an ihre ins Konzentrationslager deportierte Mutter denken. Auch an deren Freundinnen. Ob diese die Lagerhaft überlebten, weiß sie nicht.
Esther Dischereit erzählt von einem einsamen Kind, das ohne Freunde heranwuchs, weil sich kein Gleichaltriger gern auf das bewachte Anstaltsgelände begab. Und weil Erwachsene ihm meist nur als grundlos Grinsende begegneten, die nachts verzerrte Laute "aus Fenstern schickten", geriet es später gelegentlich an unredliche Menschen, denn es hatte nicht gelernt, Gesichter zu lesen.
Machtmissbrauch in Heilanstalten
Die Autorin zeigt, wie die in den fünfziger Jahren nicht in Frage gestellte Hierarchie in Heilanstalten Ärzte und Polizisten verführte, ihre Befugnismacht zu missbrauchen; auch wie das Machtgefälle familiäre Beziehungen ruinierte. Als Leser erlebt man mit Beklemmung, wie eine Überlebende der Lager - zweifellos die Mutter der Autorin - nach häuslich erlittener Gewalt ohne institutionellen Schutz blieb und sie noch Jahrzehnte später für das ihr zugebilligte lächerlich kleine Privileg eines geheizten Zimmers Neid und Diffamierung ausgesetzt war. Diese Demütigungen sind das Kernthema der Erzählung. Sie sind so wenig aufzulösen wie die Fragen, die der unaufgeklärte Tod einer Freundin der Mutter aufwirft. Ihm spürt die Autorin nach und gerät dabei in ein leicht nachvollziehbares Flottieren.

Esther Dischereit: Großgesichtiges Kind
De Gruyter Verlag, Berlin, 2015
80 Seiten, 24,95 Euro

Programmhinweis:
Die Mauern waren dick
Hörspiel von Esther Dischereit
Ursendung: Deutschlandradio Kultur, 18. Februar 2015, 21.30 Uhr

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