Patrick Modiano: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst"
Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl
Hanser Verlag, München 2015
160 Seiten, 18,90 Euro
Die Vermessung unscharfer Bezirke
"Damit du dich im Viertel nicht verirrst" heißt der neue Roman von Patrick Modiano, der 2014 den Literatur-Nobelpreis erhielt. Eine detektivische Recherche in Paris, bei der man immer tiefer in die Vergangenheit des Helden vordringt.
Es ist wie jedes Mal bei einem Roman von Patrick Modiano: Nach wenigen Sätzen verfällt man der Erzählerstimme. Eine traumverlorene Stimmung kommt auf, und genau wie die Figuren scheint auch der Leser nach etwas suchen zu müssen. Was das genau ist, bleibt erst einmal unklar. Dann geschieht etwas Rätselhaftes, Namen, Adressen, Ortsbeschreibungen prasseln auf einen ein, und schon steckt man mitten in einer Geschichte. Die Atmosphäre der Verlorenheit aber hält an.
"Damit du dich im Viertel nicht verirrst" beginnt mit einem Telefonklingeln. Es ertönt in der Stille eines heißen Septembernachmittags; Jean Daragane war gerade auf dem Sofa eingenickt und nimmt unwillig ab. Er habe sein Adressbuch gefunden, sagt ein Unbekannter am anderen Ende. Obwohl ihm die Stimme des Mannes unangenehm ist und er kaum unter Leute geht, vereinbart Daragane für den folgenden Tag ein Treffen in einem Café an der Rue de l'Arcade. Ganz in der Nähe, am Boulevard Haussmann 73, lag das Büro des Vaters, fällt ihm auf dem Weg dorthin ein. Seine Befangenheit nimmt zu. Der Finder, ein gewisser Gilles Ottolini, kreuzt in Begleitung einer Freundin auf und bedrängt Daragane mit Fragen. Wer denn dieser Torstel sei, der in dem Büchlein verzeichnet ist? Daragane, Verfasser einiger Romane, weiß es nicht mehr, zumindest sagt er das. Aber in Daraganes Debüt sei dieser Name aufgetaucht, insistiert Gilles, und vor Jahrzehnten sei Torstel in einen Kriminalfall verwickelt gewesen.
Sog der Erinnerung
Suchbewegungen dieser Art sind ein typischer Bestandteil von Modianos Poetik. Der Gegensatz zwischen der dokumentarischen Präzision, mit der Adressen, Straßenverläufe und Namen aufgeführt werden, und der Unschärfe der Erinnerung entwickelt einen charakteristischen Sog. Die Recherche hat einerseits etwas Detektivisches: Eine Polizeiakte taucht auf, Daragane stößt auf Passfotos eines Kindes, auf denen er sich selbst erkennt, und das vage verführerisch wirkende Mädchen aus dem Café warnt Daragane vor ihrem Freund Gilles, der sich als Spieler in Geldnöten entpuppt.
Andererseits ist die Suche ein hochverdichteter, innerer Prozess, bei dem der Held immer tiefer in seine Vergangenheit vordringt. Alles läuft auf eine Frau zu: Annie Astrand, Varietétänzerin und eine Freundin der Mutter. Sie nahm den Jungen in ihre Obhut, wohnte mit ihm außerhalb von Paris und dann mitten in der Stadt, bis sie gemeinsam mit ihm eine Reise in den Süden antrat und verhaftet wurde.
Noch in Paris schrieb Annie dem damals Siebenjährigen die Adresse der gemeinsamen Wohnung auf einen Zettel. Auf der Rückseite stand: "Damit du dich im Viertel nicht verirrst". Aber genau dieses Verirren kennzeichnet Modianos Erzählweise. Im Hintergrund geistern die Realien aus seiner Biographie herum: der jüdische Vater, der krumme Geschäfte machte und sich als Kollaborateur vor der Deportation retten konnte, die abwesende Mutter, die Schauspielerin war und ihren Sohn allein ließ. Patrick Modianos Romane, verfasst in einer transparenten, schwerelosen Prosa, sind vor allem eines: Vermessungen unscharfer Bezirke.