Esther Gerritsen: Mutters letzte Worte
Aus dem Niederländischen von Meike Blatnik
Berlin Verlag, Berlin 2014
208 Seiten, 18,99 Euro
Wenn die Sprache fehlt
In ihrem Roman "Mutters letzte Worte" beschreibt die niederländische Autorin Esther Gerritsen die alltägliche Dramatik in einer zerbrochenen Familie. Ein überzeugendes Buch mit glänzenden Dialogen.
Eine Mutter begegnet ihrer erwachsenen Tochter unvermutet auf der Straße und erklärt ihr, sie werde bald sterben. Dann geht sie geradezu fluchtartig wieder ihrer Wege, während die Tochter davon radelt. Mit dieser Begegnung beginnt der Roman von Esther Gerritsen, und in der Folge führt er viele unterschiedliche Facetten von Verständigung und Nicht-Verständigung vor, sprachliche und non-verbale.
Coco ist Anfang 20, sie hat kein Ziel, will eigentlich gar nichts, wie sie ihrem viele Jahre älteren Freund Hans erklärt. Sie passt sich an, fügt sich, um ihn nicht zu verlieren, und verführt ihn, wenn er andeutet, dass er die Beziehung beenden möchte. Immerhin ein Aufschub: Unmittelbar nach dem Sex kann er sie ja nicht verlassen. Aber Coco geht auch gezielt in Kneipen, um fremde Männer aufzureißen. Immer wieder muss sie sich beweisen, dass sie – ja was? Gesehen wird? Dass sie Macht über andere hat?
Krankengespräch beim Friseur
Elisabeth hat Krebs und erzählt das zuerst ihrem Friseur, dessen gleichmäßig-neutrale Anteilnahme sie aushalten kann, dann ihrem Arbeitgeber, der sie fraglos unterstützt bis zum Ende. Elisabeth ist Rahmenmacherin - die beste - und glücklich in ihrem Beruf, der ihr erlaubt, sich mit konkreten Dingen zu befassen und sie davor schützt, sich der Unberechenbarkeit der Menschen auszusetzen. Als ihre Tochter bei ihr einziehen will, um sie in ihrer Krankheit zu unterstützen, gefällt ihr das gar nicht. Dieses fremd-vertraute, dicke Geschöpf stört sie, und sie will in keinem Fall ihre letzten Wochen und Tage von ihr beobachtet und befragt werden. Aber weil sie sich wie eine Mutter verhalten möchte, fügt sie sich.
Die Konstellation ist explosiv. Im Rückblick erfährt man die Vorgeschichte: Die Mutter, die mindestens am Asperger-Syndrom leidet und sich ihr Leben lang unablässig bemüht hat, sich so zu verhalten, wie sie meint, sich verhalten zu sollen; der Vater, der sich eine andere Frau gesucht hat; die Tochter, die ihr Leben lang vor sich selbst davon gelaufen ist und nun endlich einmal Verantwortung übernehmen will, die freilich nicht erwünscht ist. Große Gefühle? So stellt man sie sich nicht vor. Die Familiengeschichte entfaltet sich in ihrer alltäglichen Dramatik und läuft nach vielen Trennungen auf die letzte Trennung zu, den Tod.
Dilemma der menschlichen Kommunikation
Der auktorial erzählte und von Meike Blatnik hervorragend übersetzte Roman macht am Beispiel einer Familie das Dilemma der menschlichen Kommunikation und damit menschlicher Bindungen anschaulich, und er tut das sachlich, präzise, oft in kurzen Sätzen, ohne überflüssige Schnörkel und gerade darum überzeugend – und erstaunlicherweise nicht bedrückend. Die Kapitel präsentieren im Wechsel die Wahrnehmungen der Mutter und der Tochter, sodass sich die Sichtweisen der beiden bestens ergänzen, gerade weil ihre Inkompatibilität - und vielleicht am Ende ausgerechnet darin ihre Gemeinsamkeit - deutlich wird. Glänzend gestaltete Dialoge geben dem Ganzen Leben. Eindringlich erzählt wird der Tod der Mutter. Das Ende wartet mit einigen Überraschungen auf.