Romanautor Olivier Guez über den NS-Kriegsverbrecher

"Niemand hat die wahre Geschichte von Mengele gekannt"

Kriegsverbrecher Josef Mengele von vorne und im Profil
"Ich bin immer da, hinter Josef Mengele", sagt der Autor Olivier Guez darüber, wie nah er dem Lagerarzt in seinem Roman gekommen ist. © imago/United Archives International
Olivier Guez im Gespräch mit Andrea Gerk |
Es liest sich wie ein Krimi. Doch es ist die wahre Geschichte, die Olivier Guez in "Das Verschwinden des Josef Mengele" beschreibt. Der französische Autor kommt dem KZ-Arzt von Auschwitz und seinem Leben in Südamerika nach dem Krieg sehr nah.
Andrea Gerk: "Das Verschwinden des Josef Mengele" heißt der neue Roman des französischen Schriftstellers Olivier Guez, der in seiner Heimat mit einem der bedeutendsten Literaturpreise ausgezeichnet wurde und ein Bestseller ist. In dem Buch erzählt der 1979 in Straßburg geborene Autor und Journalist, der übrigens auch am Drehbuch für den Film "Der Staat gegen Fritz Bauer" mitgearbeitet hat, von Mengeles Leben nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
1949 war er nach Argentinien gegangen, wo er vom dortigen Regime, aber auch von seiner Familie aus Deutschland unterstützt wurde. Immer wieder entkam er seinen Verfolgern, rettete sich von einem Versteck ins nächste, bis er 1979 tot an einem Strand in Brasilien aufgefunden wurde. Kürzlich hatte ich Gelegenheit, mit Olivier Guez über sein Buch zu sprechen, und habe ihn zuerst gefragt, was ihn daran gereizt hat, sich mit dieser erschreckenden Figur auseinanderzusetzen.

Was war Mengeles wahres Leben nach Auschwitz?

Olivier Guez: Ich wollte zwei Fragen beantworten. Es gibt sehr verschiedene Rätsel über Josef Mengele. Aber was wichtig für mich war, es ist ein Leben danach. Mengele nach Mengele. Wie ist dieser Mann nach Südamerika gegangen, wer hat Mengele in Südamerika geholfen, wie hat das funktioniert. Was hat der BND gemacht, was hat der Mossad gemacht, und so weiter.

1949 flüchtete der NS-Kriegsverbrecher Josef Mengele nach Argentinien und traf auf viele Sympathisanten. Bis heute ranken sich Legenden um ihn – denen der Autor Olivier Guez in seinem Buch eine penible Recherche entgegensetzt. Lesen Sie hier unsere Buchkritik zum Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele".

Es ist wie ein Krimi, aber es ist die wahre Geschichte von Josef Mengele in Südamerika. Das war die erste Frage. Und dann gibt es eine zweite, metaphysische Frage: Was ist das Leben von Josef Mengele nach Auschwitz? Gibt es eine Strafe für Mengele? Wir wissen, dass Mengele nie verhaftet wurde, das heißt, in Brasilien 1979 gestorben ist. Aber was war sein wahres Leben nach Auschwitz.
Der französische Autor Olivier Guez, aufgenommen im November 2017 im Restaurant Drouant in Paris anlässlich der Vergabe des Literaturpreises Renaudot an ihn für seinen Roman "Das Verschwinden von Josef Mengele"
Der französische Autor Olivier Guez, aufgenommen im November 2017 im Restaurant Drouant in Paris anlässlich der Vergabe des Literaturpreises Renaudot an ihn für seinen Roman "Das Verschwinden von Josef Mengele"© picture alliance / NurPhoto / Michel Stoupak
Gerk: Sie hatten ja auch an dem Drehbuch für den Film "Der Staat gegen Fritz Bauer" mitgearbeitet. Da geht es um die mühsame Suche nach Adolf Eichmann. War das auch was, was Sie darauf gebracht hat, auf die Spur von Mengele? Hat dieser Film das quasi ins Rollen gebracht?
Guez: Ja, absolut. Es ist nicht die Geschichte von Eichmann in Argentinien. Es ist, wie Fritz Bauer Eichmann in Argentinien entdeckt. Um das Drehbuch vorzubereiten, hatte ich sehr viel über das Argentinien der 50er-Jahre gelesen und natürlich sehr oft Mengele gefunden. Zum Beispiel die Beziehungen zwischen Mengele und Eichmann, ich habe die extrem interessant gefunden. Es war eine Überraschung, dass diese zwei Nazis sich so gehasst haben. Ich würde sagen, dass dieses Buch ein bisschen die Folge von dem Film ist.
Gerk: Sie haben schon gesagt, Sie waren mehrfach in Argentinien und haben da recherchiert. Wie haben Sie überhaupt, wenn Sie sagen, Sie wollten wissen, was war seine Strafe, wie war sein Leben, wie haben Sie das herausgefunden, wie haben Sie recherchiert?
Guez: Ich arbeite seit mehr als zwölf Jahre über diese Themen. Ich bin 2005 nach Berlin umgezogen, um ein Buch über die Geschichte der Juden in Deutschland seit dem Krieg zu schreiben. Deshalb lese ich oder bin ich interessiert, und diese Nachkriegszeit ist wirklich eine – Leidenschaft, dies Wort ist zu groß –, aber das ist wirklich mein Interesse seit mehr als zehn Jahren. Ich weiß, wo ich recherchieren muss. Ich bin kein Historiker, aber ich weiß, welche Bücher ich lesen muss. Ich habe auch sehr verschiedene Bücher über das Leben von Mengele gelesen, über die Nazis in Südamerika, aber auch ganz andere Literatur.

"Ich wollte die Geografie von Mengele in Südamerika verstehen"

Aber bevor ich nach Argentinien kam, hatte ich die Adresse von Mengele in Buenos Aires zum Beispiel. In Buenos Aires habe ich nicht so viele Leute getroffen, ich habe auch nicht als Journalist gearbeitet. Aber ich wollte die Topografie, die Geografie von Mengele in Südamerika verstehen. In welcher Stadt er gelebt hat, das könnte viel über sein Leben in Südamerika sagen, zum Beispiel.
Gerk: Er konnte da ja auch relativ offen leben. Man ist richtig erschüttert, wenn man sich das noch mal so vergegenwärtigt. War das auch was, was Sie doch irgendwie berührt, erstaunt hat, wie gleichgültig da offenbar auch die deutsche Öffentlichkeit war oder auch die… – dass man da so wenig letztlich in die Gänge gebracht hat?
Guez: Ich glaube, wir haben die 50er-Jahre in Deutschland vergessen. Niemand hat über die Ermordung von sechs Millionen Juden zum Beispiel geredet. Das war kein Thema in der Zeit. Niemand hat geredet, die Täter, die Opfer, die Leute, die Auschwitz oder andere KZs überlebt haben. Niemand hat geredet. Israel hatte ganz andere Interessen in Nahost, Amerika war im Kalten Krieg – niemand hat darüber geredet. Und man darf nie vergessen, dass Mengele ein kleiner Fisch war, und er war nur ein Arzt. Es gab Hunderte von Ärzten in KZs. Er hat schreckliche Dinge gemacht, natürlich, aber er war nicht wie Eichmann.

"In den ganzen 50er-Jahren kann Mengele wirklich ganz offen leben"

Gerk: Aber hat trotzdem die Eichmann-Entführung 1960 entscheidend was verändert?
Guez: Es hat alles verändert. Aber in den ganzen 50er-Jahren kann Mengele wirklich ganz offen leben. Er nimmt seine Identität zurück, er geht zur westdeutschen Botschaft in Buenos Aires, er sagt, ich habe gelogen, mein richtiger Name ist nicht Helmut Gregor. Ich bin Josef Mengele, und ich möchte meinen Reisepass wiederhaben. Und ein paar Wochen später kriegt er den Reisepass. Und seine Adresse war im Telefonbuch von Buenos Aires am Ende der 50er-Jahre.
Alles war offen in der Zeit. Aber nach der Entführung von Eichmann ist alles anders. Das ist der zweite Teil des Buches. Der erste Teil ist das Dolce Vita von Josef Mengele und anderen Nazis in Südamerika, und dann, das ist dieser Rat, er muss verschwinden, um zu überleben.
Gerk: Er ist ja stark auch von seiner Familie unterstützt worden, auch von einem leitenden Angestellten, dem Prokuristen Hans Seldmayr, die auch immer wieder Gelder nach Südamerika geschickt haben. Haben Sie mit dieser Familie, mit denen, die es da noch gibt, auch Kontakt gehabt? Waren die kooperativ?
Guez: Nein. Ich habe nicht nach der Mengele-Familie gesucht. Der Sohn von Josef Mengele lebt immer noch, Rolf Mengele. Aber ich wollte keinen Kontakt mit der Mengele-Familie.
Gerk: Wie war das für Sie? Es gab ja bis vor wenigen Jahren, ich glaube, vor zwei Jahren, noch immer diese Mengele-Landmaschinen in Günzburg. Ich nehme an, dass Sie da auch waren. Und da gibt es ja auch diesen Namen immer noch zu lesen. Ist das nicht irgendwie schauderhaft?
Guez: Günzburg ist eine komische Stadt, sage ich auch. Ich war in Südamerika, aber ich war auch in Günzburg natürlich, und die Firma existiert nicht mehr. Aber man kann immer noch …, das Haus von der Mengele-Familie existiert noch, und der Ort, wo die Firma war, existiert natürlich noch. Man kann verstehen, wie groß und wichtig diese Mengele-Firma, dieses Mengele-Imperium war für die Stadt. Das war sehr wichtig für mich, nach Günzburg zu fahren.

"Ich habe so viel gelesen, und ich wollte etwas fühlen"

Aber ich brauchte nicht mit jemandem zu reden. Ich habe so viel gelesen, und ich wollte etwas fühlen. Und nochmals, auch die Topografie ist sehr wichtig für mich, bevor ich etwas schreibe.
Gerk: Ich fand ganz erstaunlich, wenn man den Text liest, dass – er ist ja nicht aus der Ich-Perspektive – also Sie haben sich jetzt nicht in Josef Mengele hineinversetzt, aber trotzdem ist man ihm irgendwie ganz nahe. Wie haben Sie das hingekriegt?
Guez: Das war meine Idee. Ich konnte natürlich nicht "Ich, Josef Mengele" schreiben, das war unmöglich. Ich wollte auch nicht "Ich, Olivier Guez" schreiben. Die Idee war, Josef Mengele in Südamerika zu folgen. Ich bin immer da, hinter Josef Mengele. Ich bin nicht in seinem Kopf. Manchmal bin ich es, aber ich will nicht wie Josef Mengele denken natürlich, aber ich bin hinter Josef Mengele in Südamerika. Das war die Idee. Das Vorbild war ein bisschen Truman Capotes "In Cold Blood".
Gerk: Aber wie ist es Ihnen denn in dieser Zeit gegangen? Ich meine, man kriegt ja schon bei der Vorbereitung auf so ein Thema Albträume. Wie haben Sie da viele das ausgehalten, sich so intensiv mit dieser Figur zu beschäftigen?
Guez: Es war am Anfang sehr intensiv, weil ich vorher nicht so viel über die KZs und vor allem die Nazi-Ärzte im KZ gelesen. Das war wirklich schwierig. Aber dann ist es einfacher geworden. Man schützt sich. Es ist, wie wenn jemand krank ist, dann haben wir Antikörper. Und ich muss auch sagen, ich hatte auch ein bisschen Schadenfreude, das Ende von Mengele zu beschreiben.
Gerk: Aber es war Ihnen auch immer klar, Sie wollten einen Roman über das Thema und über ihn schreiben.
Guez: Ich wollte die wahre Geschichte, oder was wir wissen, als einen Roman schreiben. Aber es ist keine Fiktion. Es ist eine literary non-fiction – oder eine Erzählung oder ein Dokumentarroman oder etwas dazwischen.

"Mengele in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren war wie eine Pop-Figur"

Gerk: Das Buch ist ja in Frankreich schon sehr erfolgreich. Sie haben auch einen bedeutenden Preis dafür bekommen. Was, denken Sie, warum das da so ein großes Echo hat, warum dieses Thema heute noch mal eben so einen starken Widerhall findet?
Guez: Das ist schwer zu sagen, aber ich glaube, die Geschichte der Nazis nach dem Krieg ist nicht gut bekannt, und es ist auch sehr interessant und spannend. Ich glaube, die Figur Mengele ist auch relativ bekannt, und Mengele in den 60er-, 70er-, 80er-Jahren war wie eine Pop-Figur. Aber niemand hat wirklich die wahre Geschichte von Mengele gekannt. Und ich glaube, vielleicht kann man auch dieses Buch wie einen Krimi lesen.
Gerk: Aber vielleicht hat es ja auch mit der politischen Situation, die sich in Europa immer mehr verändert, zu tun. Das könnte ja auch sein. Überall sind die Rechten wieder stark …
Guez: Ich glaube, die Geschichte von Mengele ist auch die Geschichte des europäischen Bösen. Und man fühlt auch, dass dieses Böse ein bisschen zurück ist. Es gibt viel mehr Gewalt in ganz Europa. Aber nicht nur Rechtsextreme. Es gibt auch eine Gewalt von Linksextremen, und natürlich gibt es auch Gewalt vom Islamismus. Es liegt etwas in der Luft in Europa, natürlich. Ob die Leute eine Beziehung zu dem Buch herstellen können, das kann ich nicht sagen.
Gerk: Aber dann ist es ja umso wichtiger, auch an diese Zeit und an das Böse, was damals möglich war, zu erinnern.
Guez: Ja. Mengele ist ein gutes Beispiel, wie ein Mann ohne Eigenschaften so viel Böses tun kann. Mengele ist ein Sohn des europäischen Bürgertums. Er hat zwei Doktorate, Medizin und Anthropologie. Er hat eine schöne Frau geheiratet, die Kunstgeschichte in Florenz studiert hat. Seine Familie hat viel Geld, er mag klassische Musik, klassische Literatur.

"Wir leben immer noch in der Nachfolge dieser Katastrophe"

Aber ein paar Jahre später kann er 400.000 Leute in die Gaskammer bringen. Ich glaube, es ist eine europäische Geschichte, und wir leben, glaube ich, immer noch in der Nachfolge dieser Katastrophe, in diesem Rätsel. Und diese Banalität des Bösen, das Mengele repräsentiert, interessiert, glaube ich, viele Leute.
Gerk: Sind Sie denn dahintergekommen, was das Böse ist? Das ist ja auch irgendwie immer eine interessante Frage.
Guez: Das ist eine sehr interessante Frage. Ich bin kein Philosoph. Mengele ist ein Beispiel für das Böse. Ich glaube, die kleinen Ambitionen von Mengele … – man darf nie vergessen, warum Mengele nach Auschwitz gekommen ist. Er wollte Professor an der Uni sein nach dem Krieg. Er hat geglaubt, dass es schneller für ihn klappen würde mit solchen Experimenten, nicht mit Tieren, sondern mit Menschen. Das wäre viel besser für diese Karriere. Das sind sehr kleine Dinge, und das, dieses kleine Böse, das sich in ein sehr großes Böses transformiert, kann viele Leute ansprechen, glaube ich.
Gerk: Der französische Schriftsteller Olivier Guez. Sein Roman "Das Verschwinden des Josef Mengele" ist im Aufbau-Verlag erschienen, übersetzt aus dem Französischen von Nicolas Deniz. 224 kosten 20 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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