Romanbiografien

Die Ware Leben

Annette Droste-Hülshoff, geboren am 10.1.1797 und gestorben am 24.5.1848 in Meersburg 24.5.1848; Holzstichfaksimile von 1897 nach einer Miniatur von ihrer Schwester Jenny
Die Schriftstellerin Annette Droste-Hülshoff, hier im Alter von Anfang 20, ist die Heldin einer Romanbiografie von Karen Duve. © picture alliance / akg-images
Von Christian Blees |
Romanbiografien nähern sich realen, meist historischen Persönlichkeiten mit einer Mischung aus Fakten und Fiktion. Dieses Genre kommt in letzter Zeit wieder stark in Mode – worin liegt der Reiz, aber auch das Risiko von Romanbiografien?
"Mit der neuen Idee, mit dem großen Plan, einen Roman zu schreiben, legte sich Mary in der Nacht nieder. Neben ihr schlief Percy, sein Buch war ihm aus der Hand gerutscht. Mary löschte die Kerze, schloss die Augen und wartete auf den Schlaf. Als ihr plötzlich ein fremder Klang ins Bewusstsein drang, ein Name, den sie vergessen hatte und der jetzt zurückkam. Sie sprach ihn vor sich hin und war so aufgeregt, dass sie Percy wecken musste. ,Ich weiß es wieder‘, flüsterte sie, ,die Burg hieß FRANKENSTEIN‘."
Barbara Sichtermann: "Jeder, der eine Romanbiografie liest, weiß: Da geht auch Fantasie rein von Seiten des Autors oder der Autorin. Das ist eine Verabredung, die man dann mit diesem Publikum trifft."
Barbara Sichtermann, Autorin der Romanbiografie "Mary Shelley – Leben und Leidenschaften der Schöpferin des Frankenstein". Erschienen ist das Buch 2017 im Herder Verlag. Für die Journalistin war es zwar nicht die erste Biografie, die sie geschrieben hat, aber doch die erste Beschreibung eines Lebens in Romanform:
"Man erzählt die Lebensgeschichte und man hält aber immer mal wieder die Kamera sozusagen in die Wohnstube und nimmt so kleine Szenen auf, erfindet Dialoge – so an den Schnittstellen der Biografie, wo es um Konflikte geht oder große Hoffnungen, was auch immer. Das ist einem überlassen. Das kann man ganz frei gestalten. Man muss aber aufpassen, dass man auch nicht zu viel erfindet."
Ein Porträt der Autorin Barbara Sichtermann
Barbara Sichtermann hat schon über fast alles geschrieben – auch über die Schöpferin von "Frankenstein".© Foto: Simon Brückner
Dass man beim Verfassen einer Biografie durchaus das eine oder andere Detail hinzudichten darf – diese Meinung vertrat bereits vor rund 200 Jahren Johann Wolfgang von Goethe. Darum trug dessen vierbändige Autobiografie auch den vielsagenden Untertitel "Dichtung und Wahrheit". Goethe schrieb darin unter anderem:
"Bei Behandlung einer mannigfaltig vorschreitenden Lebensgeschichte kommen wir, um gewisse Ereignisse fasslich und lesbar zu machen, in den Fall, einiges, was in der Zeit sich verschlingt, notwendig zu trennen, anderes, was nur durch eine Folge begriffen werden kann, in sich selbst zusammenzuziehen und so das Ganze in Teile zusammenzustellen, die man sinnig überschauend beurteilen und sich manches zueignen mag."
Anja Tippner, Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg, unter anderem mit dem Forschungsschwerpunkt "Formen und Strategien des biografischen und dokumentarischen Schreibens":
"Das biografische Schreiben ist ganz vielfältig. Wir haben historische Biografien, wir haben populärwissenschaftliche Biografien, und je mehr Raum ich sozusagen der eigenen Erfindungsgabe einräume, desto stärker bewegt es sich dann in Richtung Literatur."

Die Klassiker: Zweig, Feuchtwanger, Heinrich Mann

Ursprünglich beschränkte sich das Aufschreiben eines Lebenslaufes darauf, ausschließlich Daten und Fakten über eine Person zusammenzutragen. Erst allmählich gingen manche Biografen dazu über, ihre Lebensbeschreibungen durch persönliche Gedanken zu ergänzen. Und schließlich hielten sogar immer mehr spekulative Elemente Einzug in das biografische Schreiben — bis mit der sogenannten Romanbiografie letztlich eine ganz eigene Literaturgattung entstand.
Anja Tippner: "Man kann sehen, dass im 20. Jahrhundert, in den 20er-Jahren, in den 30er-Jahren, dieses Genre einen großen Aufschwung nimmt. Also, dass es viele Autoren gibt, die beginnen, sich mit historischen Persönlichkeiten zu beschäftigen und Romanbiografien zu schreiben. Eben nicht als Wissenschaftler, sondern als Autoren – Stefan Zweig, Lion Feuchtwanger, Heinrich Mann in Deutschland, zum Beispiel. Und da gibt’s ein großes Interesse am Leben der großen Personen – durch die man eben auch die eigene, dramatische Geschichte der 20er-Jahre reflektiert und versucht, Gegenmodelle zu entwickeln."
1923 veröffentlichte Lion Feuchtwanger "Die hässliche Herzogin", einen historischen Roman über die Tochter des einstigen Herzogs von Kärnten und Grafen von Tirol. Stefan Zweig wiederum präsentierte 1927 zunächst eine Romanbiografie über Marceline Desbordes-Valmore – eine der größten Lyrikerinnen Frankreichs im 19. Jahrhundert –, 1929 dann eine über den französischen Politiker Joseph Fouché. Die biografischen Romane des Schriftstellers Heinrich Mann über den französischen König Henri Quatre schließlich – erschienen 1935 beziehungsweise 1938 – zählen bis heute sogar zu Manns wichtigsten Werken überhaupt.
Der Schriftsteller Heinrich Mann, Porträtaufnahme aus dem Jahr 1931, digital koloriert|
Der Schriftsteller Heinrich Mann© picture alliance / akg-images
Anja Tippner: "Es gibt immer Leerstellen in Texten, die wir füllen müssen. Historiker legen sich größere Beschränkungen auf, wenn es um die Füllung dieser Leerstellen geht, als Schriftsteller."
Anders ausgedrückt: Gibt es im Hinblick auf bestimmte Ereignisse im Lebenslauf einer Person Unklarheiten oder gar völlige Unwissenheit, sind der Fantasie eines Romanbiografen kaum Grenzen gesetzt. Dazu Barbara Sichtermann, Autorin der Romanbiografie über Mary Shelley:
"Die wissenschaftliche Biografie kann all das zugeben. Und der Leser, die Leserin, müssen sich damit abfinden. Das ist dann eben unsicher oder unklar. In der Romanbiografie kann man das nicht machen. Da muss man sich für eine Version entscheiden. Denn die Geschichte ist durch ihre fiktiven Anteile, aber auch durch ihren ganzen Atem dazu verpflichtet, weiter zu tragen – wie jede Fiktion. Und das ist manchmal nicht so leicht. Man muss eine Version finden, an die man selber glaubt und die man der Figur auch zutraut. Das musste ich an ein paar Gelenkstellen jetzt aus der Geschichte von Mary Shelley tun."
Eine dieser Gelenkstellen im Leben der "Frankenstein"-Schöpferin war zweifellos der Tod ihres Ehemannes, Percy Shelley. Bis heute ist lediglich gesichert, dass Shelley am 8. Juli 1822 bei einer Segeltour in der Bucht von Livorno über Bord ging und ertrank. In ihrer Romanbiografie bereitet Barbara Sichtermann Shelleys Ende geschickt vor, indem sie diesen bereits in einer früheren Szene beim Segeln auf dem Genfer See aus dem Boot fallen lässt. Dabei wehrt der Nichtschwimmer Shelley die Hilfeversuche seines Freundes, Lord Byron, zunächst vehement ab. Schließlich schafft er es, aus eigener Kraft wieder zurückzuklettern – verbunden mit der historisch verbrieften Aussage Shelleys, er sei in diesem Moment durchaus bereit gewesen zu sterben.
Barbara Sichtermann: "Und er war sowieso ein ganz seltsamer Dichter. Er war sehr passiv. Er sagte immer: ,Ich bin die Leier, die sich in den Wind hängt.‘ Also: Der Wind kommt dann und schlägt die Leier an. Und so wird er auch, vermute ich, seinen Tod empfangen haben. Und ich habe versucht, diese Szene einfach, aber doch eindrücklich zu schildern – wie er ertrinkt."
"Shelley segelte mit seinen Begleitern los, er ängstigte sich nicht vor den Elementen, er sah sie als seine Beschützer an. Die Bucht von Livorno war berüchtigt für plötzliche böenartige Stürme, besonders im Sommer. Und die DON JUAN war ein Boot, dessen Segel für den schmalen Rumpf eigentlich zu groß waren. Sofort nahm sie scharfe Fahrt auf, was Shelley gefiel. Dann kam die erste Böe. Und noch eine. Regen prasselte. Edward versuchte, das Hauptsegel einzuholen. Er kam nicht an die Taue ran. Shelley lauschte dem Getöse der Wellen und Winde und genoss es. Ein Schwall ergoss sich über Deck, die Segel klatschten. Die DON JUAN drehte sich. Und schlug mit der nächsten Böe um. Für Shelley war es, als stürze der Himmel auf ihn und presse ihn unter Wasser. Er rührte sich nicht, er konnte nicht schwimmen, aber er tauchte noch einmal auf, spähte nach William und dem Jungen, sah aber nur Gischt. Dass er das Dröhnen des Sturms nicht mehr hören konnte, als er wieder untertauchte, tat ihm leid, doch es gab kein Zurück. Ein Strudel, so schien es, erfasste ihn, zog seinen Körper in die Tiefe und bedrängte ihn ringsum mit glatten Wänden aus Wasser. Als schwaches Brausen vernahm er noch das Toben des Sturms. Danach Gurgeln und Stille. Das war das Ende."
Beim Herder Verlag, der Barbara Sichtermanns Mary-Shelley-Biografie veröffentlicht hat, ist gleich eine ganze Reihe biografischer Romane erschienen. Die meisten davon behandeln das Leben und Wirken prominenter Frauen, wie etwa Maria Callas, Marlene Dietrich oder Käthe Kollwitz. Auch die Programme anderer Verlage zeigen, dass Romanbiografien seit einiger Zeit erneut im Kommen sind.
Anja Tippner: "Also, es gibt ein großes Interesse, weil wir in einer Kultur leben, in der jeder interessant werden kann. Und dementsprechend interessieren wir uns natürlich auch dafür, wie solche Lebensläufe entstehen. Also: Wie kommt man da hin? Der Einzelne ist in den Fokus gerückt, und die Romanbiografie bietet eine Möglichkeit, Lebensgeschichten auf eine interessante Weise zu erzählen."
Was aber macht aus Sicht eines Verlages eine gute Romanbiografie aus? Wolfgang Hörner, Programmchef von Galiani Berlin, einer Tochter des Verlages Kiepenheuer & Witsch:
"Ich mag diejenigen, die wirklich dann sehr, sehr gut informiert sind, die die Freiheiten nutzen, die so ein Genre bietet – nämlich da, wo Lücken sind, wo man nichts weiß, ganz doll dazu erfinden können –, aber da, wo man etwas weiß, auch wirklich da bleiben, wo man ist. Und die dann so ein sehr genaues Bild einer Figur geben, aber außenrum halt ganz viel romanhaft erzählen können."

Ein Fräulein, das die Männer erschütterte

"Das Porträt einer jungen Frau in einer Welt, in der nichts so blieb, wie es war. Historisch genau, gnadenlos entlarvend und so trocken-lakonisch und bitter-ironisch geschrieben, wie es nur Karen Duve kann."
… heißt es in der offiziellen Verlagsankündigung zur Romanbiografie "Fräulein Nettes kurzer Sommer" über die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Erschienen ist das Buch von Karen Duve bei Galiani Berlin.
Wolfgang Hörner: "Ich muss auch gestehen: Ich selbst bin nicht der Fan von Romanbiografien. Aber bei ihr hat’s mir in diesem Fall sofort eingeleuchtet, weil sie ja jetzt zwar die Figur Droste-Hülshoff als Hauptfigur hat, aber eigentlich natürlich einen Roman schreibt – über Frauenemanzipation generell in dieser Zeit und generell das Ganze in einen historischen Kontext stellt, der zwar historisch ist, der aber auch große Ähnlichkeiten mit unserer Zeit hat. Dass sie also auf eine schlaue Art und Weise nicht nur den historischen Roman macht, sondern einen, der uns gegenwärtig auch ganz viel zu sagen hat. Sie schreibt auch nicht das ganze Leben der Droste auf, sondern nimmt nur einen ganz kleinen Ausschnitt. Und das schien mir dramaturgisch und von allem, was das hergibt, sofort völlig einleuchtend.
"Am Klavier beherrschte sie nun das Hauptsächliche des Don Juan, steigerte sich aber oft auf ungute Art hinein. Dann warf sie exaltiert ihren Kopf zurück, ihre Frisur löste sich, Annette kam in Atemnot und keuchte unkontrolliert zwischen den Sätzen, die Wangen glühten, kurz: Sie bot einen Anblick, der ihre geneigte Zuhörerschaft bestürzte. Dabei war das Risiko, eine anerkannte Gesellschaftsnorm zu verletzen, für eine Dame am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts auch so schon enorm hoch. Es genügte bereits, zu laut zu sprechen. Oder zu viel. Oder mit einer zu dunklen Stimme. Wobei die normale weibliche Stimmlage bereits als zu dunkel galt. Adlige Jungfern und aufstrebende Bürgerinnen zwitscherten wie frisch geschlüpfte Vögelchen. Nicht so Fräulein Nette. Ihr Alt dröhnte ungefragt dazwischen, wenn eine Herrenrunde sich ungestört glaubte, beleidigte die sensiblen Ohren der Männer und erschütterte ihr fragiles Selbstbewusstsein."
Buchcover: Karen Duve: „Fräulein Nettes Kurzer Sommer“ und Portrait der Schriftstellerin Annette Freifrau von Droste-Hülshoff
Buchcover: Karen Duve: „Fräulein Nettes Kurzer Sommer“ und Portrait der Schriftstellerin Annette Freifrau von Droste-Hülshoff© Buchcover: Galiani Verlag, Bild: picture-alliance / dpa
Im Sommer 1820 fühlte sich die 23-jährige Annette von Droste-Hülshoff emotional zu gleich zwei Männern hingezogen: zum bürgerlichen Heinrich Straube ebenso wie zu dessen adeligen Studienfreund, August von Arnswaldt. Was genau sich zwischen den drei jungen Menschen seinerzeit abspielte, liegt bis heute im Dunkeln. Dies räumt Karen Duve im Vorwort ihres Buches auch unumwunden ein.
Wolfgang Hörner: "Sie hat sehr, sehr, sehr genau recherchiert. Wir waren ja auch zusammen dann in der Droste-Hülshoff-Forschungsstelle, und die Leute waren dann bass erstaunt, wie gut sie da Bescheid weiß. Aber der Roman erlaubt es natürlich, die Stellen, an denen man nichts weiß – biografisch, wissenschaftlich –, die auch zu füllen mit Rahmenhandlung, mit erfundenen Figuren, die genau solche Anliegen dann nochmal verstärken können."
Um sich den historischen Ereignissen zumindest "anzunähern", wie die Autorin es formuliert, griff sie beim Schreiben zu einer eher ungewöhnlichen Technik: Sie legte den beteiligten Personen ihres Romans Meinungen in den Mund, die diese beispielsweise in Form von Tagebüchern oder Briefen zwar einst tatsächlich geäußert hatten – meistens jedoch zu anderen Zeiten, anderen Anlässen oder auch gegenüber völlig anderen Personen.
"Straube sah sich um, ob jemand schaute, aber die Bökendorfer Jugend bildete gerade einen Kreis um das Feuer, irgendetwas Wichtiges schien dort vorzugehen und alle Aufmerksamkeit zu absorbieren. Da zog Straube sie an sich und küsste sie schnell auf den Mund. Sie zuckte zusammen. Es war wie ein kleiner Blitz. Etwas durchfuhr sie und ließ sie wie betäubt in seinen Armen erschlaffen. Er streichelte unbeholfen ihre schmalen Schultern. Annette stellte sich vor, wie das wäre, ein Leben mit Straube. Diese stille Liebe, in einem kleinen Stadthäuschen wohnen, einander an den Händen fassen, einander verstehen. Gespräche mit einem Ehemann, der nicht nur von seinen eigenen Heldentaten und Werken erzählte, sondern den es auch interessierte, was sie vorzuweisen hatte. So jemanden würde sie nie wiederfinden. Und wenn es ihr einmal schlecht ging, wenn die Traurigkeit sie zu überwältigen drohte, würde Straube das bittere Gefühl von Schuld und Unwürdigkeit einfach weg lachen."

Die Urgroßmutter und Sigmund Freud

Nicht ganz so viel Berühmtheit wie Mary Shelley oder Annette von Droste-Hülshoff erlangte Ida Bauer — jene Frau, der die Münchner Autorin Katharina Adler einen biografischen Roman gewidmet hat. Zumindest in psychotherapeutischen Fachkreisen genoss Ida Bauer allerdings schon immer einen gewissen Bekanntheitsgrad. Denn basierend auf den Gesprächen, die Sigmund Freud einst mit ihr geführt hatte, entwickelte der berühmte Wiener Analytiker zu Beginn des 20. Jahrhunderts sein theoretisches Konzept der Übertragung. Dass sich Katharina Adler für das Leben der Sigmund-Freud-Klientin interessierte, hatte einen einfachen Grund: Bei Ida Bauer handelte es sich um Katharina Adlers Urgroßmutter. Nach mehreren Jahren der Recherche und des Schreibens war ihr biografischer Roman schließlich fertig und erschien 2018 unter dem Titel "Ida" bei Rowohlt.
Katahrina Adler: "Die Fiktion hatte eigentlich immer Vorrang. Und da hatte ich auch wenig Skrupel. Ich habe es, ehrlich gesagt, als eine sehr produktive Spannung empfunden, Fakten und Fiktion gegeneinander abzuwägen – und mich dann eigentlich immer für die lebendigste Variante entschieden, ohne dass ich aber jetzt irgendwas verfälschen wollte."
Was das Zitieren historischer Dokumente anbelangt, hält sich Katharina Adler in ihrem Roman über Ida Bauer sehr zurück. Andere Romanbiografen dagegen machen deutlich häufiger davon Gebrauch, Fakten und Fiktion miteinander zu vermengen. So zum Beispiel auch Barbara Sichtermann. Sie übernimmt in ihrem Buch über Mary Shelley verschiedentlich gleich absatzweise Formulierungen aus Originalquellen, die sie recht geschickt in von ihr selbst frei erfundene Szenen einbindet.
Der Literaturwissenschaftlerin Anja Tippner zufolge folgt die Biografin damit durchaus einem aktuellen Trend:
"Wenn wir uns die älteren Texte anschauen, dann folgen die sehr stark dem romanhaften Modell: Die Quellen spielen in den Texten keine Rolle. Wenn wir uns neuere Texte ansehen, dann stellen wir oft fest, dass tatsächlich da Originaltexte eingearbeitet sind."
Die Autorin Katharina Adler
Die Autorin Katharina Adler© Christoph Adler
Dass Katharina Adler in "Ida" nur sehr spärlich aus Originalquellen zitiert, ist kaum verwunderlich. Denn es existierten kaum welche:
"Es hat mich in der Tat nicht so gestört, dass es erstmal nicht so viele Dokumente gab. Weil das hat mir eine große Freiheit im Erzählen gegeben. Und letztendlich ging es mir eben auch von Anfang an darum, einen Roman zu schreiben, eine letztlich imaginierte Geschichte, die sich auf Fakten stützt. Und deshalb wäre ich, glaube ich – auch, selbst wenn es diese Dokumente gegeben hätte – hätte ich lange überlegt, ob mich das überhaupt interessiert, die mit einzubauen."
Als Leser weiß man: In Katharina Adlers Buch sind sämtliche Dialoge fiktional. Bei Karen Duve dagegen ist es für den Leser nie ersichtlich, welches Zitat der Annette von Droste-Hülshoff oder ihrer Zeitgenossen im Zweifelsfall historisch belegt und welches frei erfunden ist. Anders verhält es sich bei Barbara Sichtermann. In ihrer Mary-Shelley-Biografie geben sich kursiv gedruckte Textstellen jeweils ausdrücklich als Zitate aus zeitgenössischen Originaldokumenten zu erkennen.
Katharina Adler: "Ich stand schon im ständigen Austausch mit meiner Lektorin. Aber da ging es eigentlich eher um die Figur Ida. Und sie war auch diejenige, die teilweise dann Geschichtliches auch wieder gestrichen hat. Was ich auch gut nachvollziehen konnte, weil sie eben genau meinte: ,Ja, an dieser Stelle bleiben wir doch bei der Figur. Die geschichtlichen Umstände sind entweder bekannt oder können prägnanter erzählt werden.‘"
"Ida drehte sich auf die andere Seite, die Matratzenfedern ächzten. In Wien wurde das Brot mittlerweile mit Brennnesselmehl, wurden die Eintöpfe mit Sauerampfer gestreckt. Onkel Karl manövrierte die Manufakturen mehr schlecht als recht durch den Krieg. Und der Genosse Seitz versorgte sie zwar mit Bargeld, aber wohlhabend war dieser Tage nur, wer Kühe, Hühner und Rüben hatte. Milch, Eier und Gemüse teilte das Landvolk in Policka noch mit den Städtern. Solange die teuer dafür bezahlten. An einem aber mangelte es hier wie dort schmerzlich: am Tabak. Ida tastete nach dem leicht gewordenen Beutel. Irgendwo in der Ferne fiel ein Schuss. Wie lange würde es noch dauern, bis auch hier nicht mehr nur auf Wild geschossen würde? Ida versuchte den Gedanken fortzuschieben. Wenn sie damit anfing, war es endgültig vorbei mit dem Schlaf. Otto in Gefangenschaft, es kam ihr wie ein Jahrhundert vor, Ernst an der Front. Wie dumm von ihr, zu glauben, er werde Reservist bleiben können. Und er fehlte ihr! Was war das nur für eine schlimme Zeit."

73 Jahre in großer Abgeschiedenheit

"Die junge Sennerin wartete in Demut auf das, was ihr Gott als Schicksal bestimmen würde, sie kämpfte gegen Einsamkeit und Trauer, und sie arbeitete hart."
(Aus Christiane Tramitz: "Harte Tage, gute Jahre – Die Sennerin vom Geigelstein". Erschienen bei Knaur, 2017)
"Morgens um fünf, wenn sich das Morgengrauen aus der Nacht schälte, schnallte sie sich den Milchkanister auf den Rücken, packte Milchschemel und Eimer und ging auf die steilen Weiden, um ihre Kühe zu melken. Während ihre Hände die Milch aus den Zitzen in den Eimer drückten, wurde es langsam Tag. Später zentrifugierte sie einen Teil der Milch zu Butter, presste sie in hölzerne Behälter mit eingestanztem Blumenmuster zu Kiloportionen und packte die geformten Butterteile in Papier, um alles schnellstmöglich ins Tal in einen Laden zu bringen. Einen anderen Teil der Milch schleppte Mare zur Käserei. An manchen Tagen stach sie Disteln auf den Hängen aus oder schnitt wuchernde Latschen zurück. War das Wetter günstig, mähte sie Gras, wendete es während des Trocknens, rechte es zusammen und trug das Heu auf dem Kopf zum Stall. Sie hackte Holz für den Herd, saß auf der Bank und sah den Vögeln beim Fliegen zu und den Blumen auf den Wiesen beim Wachsen. Mare lebte weiter. Irgendwie."
"Eine Entwicklung, die man feststellen kann, ist, dass es ein größeres Interesse auch an Biografien von unbekannten Persönlichkeiten gibt. Also, dass in Form von Romanbiografien die Geschichte von Großeltern oder Eltern erzählt wird, dass Personen in den Blick geraten, die man früher nicht als ,biografiewürdig‘ betrachtet hätte."
... sagt Anja Tippner, Literatur-Professorin aus Hamburg. Eines der Bücher, das dem von ihr beschriebenen Trend folgt, ist Christiane Tramitz‘ Buch über die Sennerin vom Geigelstein.
Christiane Tramitz: "Es ist ja sehr schwierig, so ein Buch zu schreiben über jemanden, den jeder kennt. Und jeder meint, er kennt sie am besten. Es gab auch Riesendifferenzen in diesem Tal, wo der Geigelstein steht, weil jeder natürlich seine eigene Geschichte kennt und seine eigene Geschichte hat. Das heißt, bei der Recherche musste ich mich sehr bedeckt halten: Worüber schreibe ich, was schreibe ich? Weil sonst kriegt man da lauter Knüppel zwischen die Beine geworfen. Also, man muss da sehr strategisch vorgehen, bei solchen Sachen."
Christiane Tramitz sah sich beim Schreiben ihrer Romanbiografie mit einem für das Genre eher ungewöhnlichem Problem konfrontiert: Die Person, über die sie schrieb, war noch am Leben. Persönlich kennengelernt hatte die studierte Verhaltensforscherin die Sennerin vom Geigelstein erstmals im Sommer 2014. Maria Wiesbeck – von allen nur Mare genannt – war zu diesem Zeitpunkt fast 90 Jahre alt. Von diesen 90 Jahren hatte sie 73 in fast völliger Abgeschiedenheit verbracht – auf einer Alm in den Chiemgauer Alpen, in 1600 Metern Höhe und ohne Stromversorgung. Zugang zur Sennerin erhielt Christiane Tramitz durch einen von Mares wenigen Bekannten:
"Der hat mich mitgenommen, und zwischen Mare und mir hat es sehr schnell, wie man sagen würde, gefunkt. Also: Es war sehr starke Sympathie auf beiden Seiten."
Die Verhaltensforscherin und Romanautorin Christiane Tramitz bei einer Talkshow des NDR im Februar 2014
Die Verhaltensforscherin und Romanautorin Christiane Tramitz bei einer Talkshow des NDR im Februar 2014© dpa / picture alliance / Geisler-Fotopress
Dass Mare Wiesbeck schon 1941, als junge Frau, Zuflucht auf dem Berg gesucht hatte, faszinierte Christiane Tramitz nicht nur als Verhaltensforscherin: Als sie den zweieinhalbstündigen Fußmarsch hinauf zu Mares Hütte im Sommer 2014 erstmals in Angriff nahm, wohnte die Autorin selbst am Fuße des imposanten Berges. Nach mehreren persönlichen Begegnungen mit Mare reifte in Christiane Tramitz schließlich die Idee, das ungewöhnliche Leben der Sennerin in Form eines biografischen Romans festzuhalten:
"Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich ein Buch über sie schreibe. Im Gegenteil: Ich musste sie so ein bisschen, mit einer Notlüge musste ich mir behelfen, weil: Mare war der Meinung, dass Menschen, die nicht körperlich arbeiten, keine wirkliche Arbeit leisten. Also, Journalisten — zu Journalisten hatte sie ohnehin ein sehr gestörtes Verhältnis, weil: Sie ist bekannt geworden in der Gegend, weil eine Lawine über ihr Haus gedonnert ist und sie dann, obwohl vier Meter tief begraben, sie da wieder zurückkletterte, in ihre Hütte. Und da kamen sehr viele Journalisten, Fernsehen, und das fand sie irgendwie sehr widerlich. Also: Ich konnte ihr nicht sagen, dass ich Autorin bin, dass ich schreibe. Und es dauerte tatsächlich drei Jahre lang, bis sie die Einwilligung zu dem Buch gab."

Zwei, drei Sätze für den Notizblock

Bei aller Freundschaft zu Christiane Tramitz blieb Mare bis zuletzt recht wortkarg. Vor allem dann, wenn es darum ging, über ihr früheres Leben zu erzählen:
"Das floss immer nur so zwischendurch mal ein, wenn ich gesagt habe: ,Mare, wie war‘n des, als’d die Kühe raufgebracht hast?‘ und so weiter. Dann hat sie dann so zwei, drei Sätze gesagt. Ich hatte einen Notizblock dabei, habe es aufgeschrieben. Und auch, wenn ich ein Gedächtnis wie ein Sieb normalerweise habe — bei solchen Situationen funktioniert es extrem. Und ich kann dann halt wirklich mir merken: Was hat sie gesagt? Wie hat sie es gesagt? Und dadurch, dass ich so viel mit ihr zusammen war, die drei Jahre immer wieder hochgegangen bin und stundenlang mit ihr zusammensaß, hab‘ ich so nach und nach mitbekommen, wie sie redet, was sie redet."
Tatsächlich gelingt es Christiane Tramitz, in ihrem Buch ein lebendiges Bild davon zu entwerfen, wie sich Mares Leben am Berg im Verlauf von mehr als sieben Jahrzehnten nach und nach veränderte.
"Im Takt der Jahreszeiten wurde Mare Wiesbeck älter und älter, ihr Haar färbte sich weiß, der Gang wurde schleppender, die Glieder schwerer, Heben und Bücken waren anstrengender, und abends fühlte sich Mare so müde, dass ihr kaum mehr nach den Nachrichten aus aller Welt war. Die Sennerin erlebte ohnehin genug mit all ihrer Arbeit und den vielen Menschen auf dem Geigelstein. Das reichte, da wollte sie abends nichts mehr hören von einem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, dem Hungerstreik von Mitgliedern der Roten Armee Fraktion oder dem Zweiten Golfkrieg. An den schönen Tagen pilgerten Heerscharen von Wanderern auf den Geigelstein, viele von ihnen auf Rädern. Schweißtriefend schleppten sich die Menschen in bunten Kleidungsstücken in die Höhe, quietschgelbe, grellorangene, schweinchenfarbene Flecken überall, wohin Mares Augen blickten. ,Net schee‘, murrte die alte Sennerin."
Christiane Tramitz: "Für mich ist beim biografischen Roman sehr wichtig, dass ich sehr nah an der Wahrheit bleibe, sprich, dass die äußeren Umstände stimmen. Ich hab‘ zum Beispiel bei diesem Buch sehr stark Chroniken durchgelesen, Zeitzeugen befragt. Und die haben mir dann ihre Geschichten erzählt. Das heißt, das sind wahre Geschichten. Diese wahren Geschichten habe ich wiederum in Mares Leben eingebaut. Das heißt also: Im Grunde genommen stimmt dort alles — nur sind manche Sachen von anderen erlebt worden, und das habe ich dann eben in Mares Leben mit eingebaut."
Nach drei Jahren Recherchieren und Schreiben hatte Christiane Tramitz ihren biografischen Roman über die Sennerin vom Geigelstein im Sommer 2017 schließlich fertiggestellt. Da erreichte sie kurz vor der Veröffentlichung des Buches eine Nachricht, mit der Verfasser einer Romanbiografie in der Regel eher nicht zu rechnen haben. Das Objekt ihrer biografischen Beschreibungen war plötzlich verstorben — Mare Wiesbeck hatte im Alter von 92 Jahren für immer die Augen geschlossen.
Christiane Tramitz: "Ich habe von Mare erfahren fünf Minuten, wirklich fünf vor zwölf, bevor das Buch in Druck gegangen ist. Und wir haben dann noch in den letzten Minuten das Ende des Buches und den Klappentext geändert — und haben sie in dem Buch auch sterben lassen. Weil: In der Originalversion hatte sie noch gelebt."
Barbara Sichtermann: "Man ist bei der Romanbiografie weniger frei, als Leute, die so etwas noch nicht gemacht haben, das auf Anhieb denken würden. Denn das, was man hinzufügt oder was man so an lebendigen Details glaubt, einfügen zu müssen — das muss es alles gegeben haben. Das muss alles abgesichert sein, es muss wirklich sein. Das heißt: Man muss die Lebensumstände der Figur, die man da vorstellt, wirklich in- und auswendig kennen. Man muss sehr viel gelesen haben, also, man muss tief in die Quellen abgetaucht sein. Man kann nicht einfach was aus dem hohlen Bauch hervorholen. Das klappt nicht."
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