Romane statt Dramen

Das Theater ruiniert sich selbst

Szene aus "Väter und Söhne" von Brian Friel nach Iwan Turgenjew in der Regie von Daniela Löffner am Deutschen Theater in Berlin
"Väter und Söhne" von Brian Friel nach Iwan Turgenjew in der Regie von Daniela Löffner am Deutschen Theater in Berlin © picture alliance / dpa-Zentralbild / Claudia Esch-Kenkel
Von Rolf Schneider |
Romane, Spielfilme, Szenisches bestimmten den Spielplan - zumindest des Deutschen Theaters in Berlin. Doch Dramen, fürs Schauspiel geschrieben, fehlten. So ruiniere sich eine Kunstgattung selbst, kritisiert der Berliner Schriftsteller Rolf Schneider.
"Väter und Söhne" von Iwan Turgenjew. "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin. "Hundeherz" von Michail Bulgakow. "Hiob" von Joseph Roth. "Ein Vogel ging einen Käfig suchen" von Franz Kafka. "Der Zauberberg" von Thomas Mann. "Transit" von Anna Seghers. Dies alles sind berühmte Erzähltexte der Weltliteratur.
Hinzu kommt noch Zeitgenössisches: "Unterwerfung" von Michel Houellebecq. "Tschick" von Wolfgang Herrndorf, "Das Feuerschiff" von Siegfried Lenz, "Ich wuchs auf einem Schrottplatz auf" von Antonia Baum.
Alles miteinander ergibt eine hübsche kleine Bibliothek aus zwölf Prosabüchern. In unserem Falle handelt es sich freilich um keine Bibliothek, sondern um einen Theaterspielplan. Er gehört jenem Hause, das so etwas wie die heimliche Nationalbühne der Bundesrepublik ist, nämlich das Deutsche Theater in Berlin mit seinen Spielstätten.

Prosatexte ersetzen Theaterstücke

Wir haben das Angebot von Mitte Mai bis Mitte Juni betrachtet. Zu den Dramatisierungen von zwölf Prosabüchern gesellen sich noch die Theaterfassung eines Spielfilmes sowie drei Inszenierungen dramenfernen Materials. Diesen insgesamt 17 Projekten stehen gerade sieben Stücke gegenüber, die von ihren Autoren auch als Stücke gedacht waren.
Habe ich richtig gezählt, wurde Döblins "Berlin-Alexanderplatz" in den letzten anderthalb Jahrzehnten insgesamt dreimal auf hauptstädtischen Bühnen gegeben, in jeweils hauseigener Fassung. Müssen aber Romane überhaupt dramatisiert werden? Kommen deren Stoffe in der herkömmlichen Dramenliteratur gar nicht vor?
Das Thema von Turgenjews "Väter und Söhne" findet sich gleichermaßen in Stücken Nikolai Ostrowskis und Anton Tschechows. Das Thema der Seghers-Romans gibt es in Arthur Millers "Zwischenaufenthalt in Vichy" sowie in Sławomir Mrożek "Emigranten". Und so fort.

Regisseure und Dramaturgen inszenieren sich selbst

Die inflationäre Übernahme epischer Stoffe für die Sprechbühne ist keine Besonderheit des Deutschen Theaters in Berlin. Man findet sie allenthalben. Hinzu kommen die Dramatisierungen von Spielfilmen, etwa denen von Ingmar Bergman, Federico Fellini und Rainer Werner Fassbinder.
Besonders emsig in jenem Geschäft ist John von Düffel, Dramaturg am Berliner Deutschen Theater. Er hat Joseph Conrad, Theodor Storm und Leo Tolstoi dramatisiert, außerdem drei der großen Romane Thomas Manns, "Buddenbrooks", "Der Zauberberg" und "Joseph und seine Brüder".
Wieso es zu dieser grassierenden Mode gekommen ist, lässt sich nur schwer erklären. Den Bearbeitern, die häufig die Regisseure sind, bringt es Tantiemen. Die Schauspieler müssen keine Klassikerverse sprechen, womit zumal manche der jüngeren sprechtechnische Probleme haben. Man liefert eine Art Uraufführung, was überregionale Beachtung erregt.

Und das Feuilleton schweigt

Auch ansonsten scheint man sich vor genuinen Theaterstücken eher zu drücken, was die Produktion der dramenfernen Texte Elfriede Jelineks ebenso beweist wie das szenische Geplapper bei René Pollesch.
Ich kenne kein Feuilleton, das diese Praxis beklagt. Das Sprechtheater wird zur Krücke der Prosaliteratur und missachtet 2000 Jahre genuiner Dramatik. Merken die Beteiligten nicht, dass sie mit alledem ihr Metier und also sich selbst ruinieren?

Rolf Schneider stammt aus Chemnitz. Er war Redakteur der kulturpolitischen Monatszeitschrift Aufbau in Berlin (Ost) und wurde dann freier Schriftsteller. Wegen "groben Verstoßes gegen das Statut" wurde er im Juni 1979 aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen, nachdem er unter anderem in einer Resolution gegen die Zwangsausbürgerung Wolf Biermanns protestiert hatte.
Veröffentlichungen: u. a. "November", "Volk ohne Trauer" und "Die Sprache des Geldes". Seine politischen und künstlerischen Lebenserinnerungen fasst er in dem Buch "Schonzeiten. Ein Leben in Deutschland" (2013) zusammen.

Der Schriftsteller Rolf Schneider
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