Romantik

Ein Blutsauger als Befreier

Ein Ausschnitt aus dem Film "Nosferatu - Eine Symphonie des Grauens" von Friedrich Wilhelm Murnau aus dem Jahr 1922  ist in Langenfeld in der Ausstellung "Auf Draculas Spuren. Geister und Vampire in der Kunst- und Kultu
Polnische national gesinnte Dichter nutzen Vampire gern als Bild für einen Rächer. © picture-alliance / dpa / Henning Kaiser
Von Martin Sander |
Maria Janion veranschaulicht bis heute gültige Denkmuster der polnischen Gesellschaft. National gesinnte Dichter hängen an den Ideen der Romantik. Der Vampir dient als Mittel, in erlaubter Weise Rache am Feind zu nehmen.
In Deutschland und in vielen anderen europäischen Ländern verkörpert die Romantik ein im 19. Jahrhundert abgeschlossenes Kapitel der Geistesgeschichte. Nicht so in Polen, wo Ideen der Romantik bis heute ihre Wirkungsmacht entfalten: Es geht immer wieder um den Messianismus, mit dem polnische Dichter und Denker ursprünglich auf den Verlust der Unabhängigkeit ihres Staates, die Teilung Polens zwischen Russland, Preußen und Österreich Ende des 18. Jahrhunderts reagierten.
Die polnischen Romantiker, allen voran der Nationaldichter Adam Mickiewicz, sakralisierten diese traumatische Erfahrung und brachten sie mit der Leidensgeschichte Christi in Verbindung. Polen opfere sich als Messias für den europäischen Freiheitskampf. Polen sei die Rolle des Erlösers im Aufbegehren gegen die Macht der Tyrannen zugedacht.
Polens Nationalkonservative heute sehen in solchen Ideen unwiderlegbare Wahrheiten. Auch die polnische Literaturwissenschaftlerin Maria Janion ist von den unvergänglichen Mythen der polnischen Romantik fasziniert, aber sie setzt sich mit ihnen seit Jahrzehnten kritisch auseinander.
Vampir sprengt das enge Korsett der messianischen Idylle
Janion erzählt in "Die Polen und ihre Vampire", wie die von der heiligen Idee der Nation erfassten Polen in ihrer Romantik den blutsaugenden Vampir bemühen: Er sprengt das enge Korsett der messianischen Idylle und nimmt erlaubter Weise Rache am Feind.
Janion macht darüber hinaus mit einer paradoxen postkolonialen polnischen Mentalität vertraut. Man empfindet Ohnmacht, Minderwertigkeit und Marginalität gegenüber dem Westen, besonders dem oft grausamen Unterdrücker Deutschland. Den Westen hält man für amoralisch und stellt ihm die Leiden und Verdienste des eigenen Kollektivs gegenüber.
Zugleich allerdings gelten die östlichen Grenzgebiete im heutigen Litauen, Weißrussland oder der Ukraine als Missionsland, in dem es die polnisch-christlich-abendländische Zivilisation zu verbreiten gilt. Hier gibt es in der romantischen Nationalmythologie Platz für nationales Sendungsbewusstsein und Kolonialherrenanspruch.
Traditionen und Mythen werden verständlich
Auch die kaum bekannten orientalischen Einflüsse auf die polnische Kultur greift Janion auf und spürt schließlich dem romantischen Gründungsmythos des polnischen Antisemitismus nach. Sie stellt die antijüdische Verschwörungswut des Romantikers Zygmunt Krasiński in seiner bis heute zum Schulkanon zählenden "Ungöttlichen Komödie" der Ekstase seines Zeitgenossen Adam Mickiewicz entgegen. Es war der bis heute als größter Dichter des Landes verehrte Mickiewicz, der Polen und Juden als gleichberechtigte, ausgewählte Völker im Kampf gegen die Unfreiheit besang.
Maria Janion, Jahrgang 1926, schreibt seit Jahrzehnten über die großen Themen der polnischen Kultur. Bis heute gültige Denkmuster, Traditionen und Mythen ihrer Gesellschaft werden so verständlich. Es ist faszinierend, wie sie ihr historisches Wissen mit den geisteswissenschaftlichen Debatten unserer Zeit verknüpft - und es war höchste Zeit, das deutsche Publikum mit dem Werk dieser Denkerin bekannt zu machen.

Maria Janion: Die Polen und ihre Vampire
Suhrkamp Verlag, Berlin 2014
473 Seiten, 48,00 Euro

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