Romantische Gegenwelt

Wie könnte ein zeitgemäßer Konservatismus aussehen?

CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt spricht in der Parteizentrale in München am 15.1.2018 mit Journalisten.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt in der Parteizentrale in München © imago / ZUMA Press
Von Christian Schüle · 25.01.2018
Was ist eigentlich konservativ, fragen zurzeit vermehrt Kolumnisten: Nicht zuletzt seit dem Revolutionsaufruf von CSU-Politiker Alexander Dobrindt. Dabei sei nicht so einfach zu erkennen, was genau Konservative bewahren wollen, meint der Publizist Christian Schüle.
Wir haben es offenbar mit einem gerade ausbrechenden Kulturkampf zu tun. Kein Kampf der Zivilisationen zwischen Ost und West, zwischen Asien und Europa, sondern einer gesinnungsmoralischen Aufrüstung innerhalb der deutschen Gesellschaft zwischen Liberalismus und Konservatismus.

Kampfansage an die angeblich links-rot-grüne Hegemonie?

Kürzlich rief der von erlesenem Feinsinn recht weit entfernte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt – bewusst oder unbewusst geschichtsvergessen – zu einer "Konservativen Revolution der Bürger" gegen die "linke Revolution der 68er" auf, und just bekundet AfD-Quasiphilosoph Marc Jongen öffentlich, die Stimmung im Lande insgesamt "drehen zu wollen", was mehr als ein Plädoyer für eine neue Kulturpolitik eine Kampfansage an die angeblich linksrotgrüne Hegemonie ist.
Beide Herren in Anzug und mit Krawatte, zielen im Wettstreit ums gleiche Wählerpotential auf eine Reaktivierung des Konservativen Denkens für eine sozialromantische Gegenwelt: Als fiktive Geborgenheits-Gemeinschaft mit einer alle Moden und Momente überdauernden Werteordnung in einer Zeit, da alles permanent in Unordnung ist.
Aber abgesehen von der Grundlegung des christlichen Abendlandes durch den syro-aramäischen Juden Jesus und die Prägung der westlichen Kultur durch die arabisch-orientalische Wissenschaft steht ja die Frage im Raum: Was genau könnte der konservative Revolutionär konservieren wollen?

Erweiterter Familienbegriff auch bei Bürgerlichen

Die Kernfamilie als vom christlichen Gott getraute Keimzelle der Gesellschaft wäre vermutlich der überzeitlich gültige Leitwert einer konservativen Reaktion auf Verlotterung durch Anstandsverfall par excellence. Mag man so sehen, gut, aber selbst bürgerlich Konservative pflegen wie selbstverständlich einen erweiterten Familienbegriff.
Es gibt Homosexualität in bürgerlichen Parteien wie in der katholischen Amtskirche. Die Ehe als bewährte Organisationsform wider den sittenlosen Individualismus mag bewahrenswert sein, als Institution ist sie unverwüstlich da: Für alle, die sich lieben und einander verantworten, egal ob die antiken Autoren der Bibel dafür einst Mann und Frau bevorzugten.

Geschichte immer schon Resultat massenhafter Migration

Heimatverlust schließlich und die Sehnsucht nach Zugehörigkeit, nach Nation, Verband und vertrauter Scholle könnte man vor allem in ländlichen Bereichen aufspüren, müsste aber beim Blick in die bildungsbürgerlichen Standardwerke der historischen Wissenschaft rasch erkennen, dass Geschichte immer schon das Resultat massenhafter Migration war, immer schon kultureller Prozess, immer schon Diffusion und Diversität – die übrigens genau das schufen, was der Konservative jetzt verteidigen will.
Um es klar zu sagen: Ohne nationalistischen Hass auf "die Anderen" ist Patriotismus absolut legitim. Und wer möchte, soll die Sonntagspredigt auswendig lernen, sich vor der Ehe sexuell enthalten und Tracht tragen. Dass jede und jeder diese möglicherweise konservativen Ideale ungestört ausleben kann, ermöglicht exakt jener moral- und ideologiefreie Liberalismus, in dem sowohl der konservative als auch der sozialistische Revolutionär seinen Hauptgegner erkannte.

Den Menschen in seiner Würde sehen

Ein zukunftsgemäßer Konservatismus im Übrigen würde die ewigen Werte der Humanitas kultivieren. Er würde im Sinne der christlichen Sozialethik den einzelnen Menschen im ganzen Ausmaß seiner Würde als Person und nicht als Träger einer bestimmten National-Identität verstehen.
Er nähme sich heute, da die Idee eines guten Lebens vornehmlich auf Rendite, Wachstum und Egoismus reduziert wird, der ältesten aller Werte an: Loyalität und Respekt. Man kann dazu auch Solidarität sagen. Dies zu bewahren, in Zeiten der Zersplitterung und kulturkämpferischen Frontlinien-Formatierung, – dies nun wäre wahrhaft konservativ-revolutionär.

Christian Schüle, 46, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert, war Redakteur der ZEIT und lebt als freier Essayist, Schriftsteller und Publizist in Hamburg. Er hat mehrere Bücher veröffentlicht, darunter den Roman "Das Ende unserer Tage" (Klett-Cotta) und zuletzt die Essays "Heimat. Ein Phantomschmerz" (Droemer) sowie "Wir haben die Zeit. Denkanstöße für ein gutes Leben" (edition Körber-Stiftung). Seit 2015 ist er Lehrbeauftragter im Bereich Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin.

Der Autor Christian Schüle.
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