"Ich versuche nur zu sagen, die Welt ist kompliziert. Und ich will nicht, dass wir zu Typen werden, die das nicht sehen können. Du empfindest überhaupt nichts mehr für die Menschen, die dir da gegenüberstehen."
Ron Leshem: "Als wir schön waren"
© Rowohlt Verlag
Auf der Jagd nach Hightech-Erinnerungen
06:19 Minuten
Ron Leshem
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
Als wir schön warenRowohlt, Berlin 2022398 Seiten
25,00 Euro
Von Gaza bis zum Amazonasregenwald: Im Roman werden illustre Schauplätze mit fantasievollen Geschichten verbunden. Ein junger Israeli läuft vor der Vergangenheit davon und trifft eine Hirnforscherin. Sie kennt eine Methode, Erinnerungen zu manipulieren.
Dass ihn Filme schon als Kind begleitet haben, ist für Ron Leshem kein Nachteil. Hauptberuflich arbeitet der in den USA lebende Israeli als TV-Produzent, Serienschreiber und Drehbuchautor. Nun legt er seinen dritten Roman vor, einen Netflix-geeigneten Thriller.
Im Mittelpunkt steht der junge Israeli Daniel. Aufgewachsen im Gazastreifen, in der Illusion, ein Zusammenleben mit den Palästinensern wäre denkbar, wird er jäh aus seiner Kindheit gerissen, als bei einem Terroranschlag vor seinen Augen seine Mutter umkommt. Fortan lebt er bei der Familie seines Freundes Magouri, der ebensowenig religiös ist wie er selbst.
An einem Scheidepunkt
Die beiden Jungen gehen zusammen surfen, lauschen den Geschichten von Magouris Großmutter, erleben Liebesabenteuer. Magouri gibt Daniel die Sicherheit, die er benötigt, um sein Trauma zu vergessen. Ein Bruch erfolgt, als Magouri nicht Daniels Begeisterung teilt, zu Armee zu gehen.
Zwei Wege, ein Ziel
Die Erfahrungswelten der Freunde driften auseinander: Während Daniel als Scharfschütze Palästinenser erschießt, versucht Margouri deren Geschichte zu verstehen. Am Ende landen beide im Gefängnis. Daniel, weil er willkürlich und hasserfüllt palästinensische Zivilisten bedroht und Magouri, weil er die Moral der Truppe unterhöhlt hat.
Die Geschichte dieser Freundschaft und die Innenansichten aus dem Alltag junger Soldaten während der Intifada, später auch der Räumung Gazas, gehören zu den atmosphärisch stärksten Momenten des Romans. Sie wird in Rückblenden aufgerufen.
In der erzählten Gegenwart hat Daniel die Armeezeit bereits hinter sich und streift quer durch Lateinamerika, ein Aussteiger auf der Flucht vor seinen Erinnerungen, ein netter unkomplizierter Kerl, von dessen Dämonen niemand etwas erfährt, weil er nie lange mit jemandem zusammenbleibt.
Liebe im Sturm
In Bolivien trifft er auf die Hirnforscherin Nora. Warum sich gerade die beiden unversehens aufeinander einlassen, ist nicht ersichtlich, doch für den Fortgang der Handlung unbedingt wichtig.
Als ein tagelanger Sturm Nora und Daniel in einer Höhle im Regenwald festhält, stellt sich heraus, dass sie verfolgt wird. In den USA hat sie an einer Erfindung gearbeitet, mit der menschliche Erinnerungen gespeichert, allgemein abrufbar, vor allem aber nachträglich veränderbar werden. Hier beginnt nun der Thriller.
Ein überschäumender Cocktail
Nora stirbt unter mysteriösen Umständen, ihre Leiche wird zum Reisegepäck. Ihre Schwester kommt hinzu und versucht gemeinsam mit Daniel, herauszufinden, wer für Noras Tod verantwortlich ist und wo ihre Erfindung, der "Ozean", verborgen ist.
Neue Figuren, Verwicklungen, alte Traumata und mysteriöse Mächte werden da zusammengemixt. Es entsteht ein überschäumender Cocktail, von dem man, würde er in Folge verabreicht, nicht mehr als zwei oder drei Gläser zu sich nehmen möchte. Zu wenig Psychologie, zu viel Fantasie, nicht fein, aber temperamentvoll serviert - und wie bereits erwähnt Netflix-tauglich.