Ronja von Rönne: "Wir kommen"
Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2016
208 Seiten, 18,95 Euro
Mirakel aus dem Berliner Hauptstadtbiotop
Ronja von Rönne - Jahrgang 1992 - hat mit "Wir kommen" ihren Debütroman vorgelegt. Der ist geprägt von überschaubarer Handlung und schlichtem Satzbau und liest sich schnell weg, meint unser Kritiker Rainer Moritz.
Alle Jahre wieder. 1999 begann das vielleicht, damals, als sich der "Spiegel"-Journalist Volker Hage daran erfreute, dass mit einem Mal junge, unkonventionelle, fotogene Autorinnen auf den Plan traten und den Literaturmarkt zu erobern schienen. Karen Duve, Sibylle Berg, Alexa Hennig von Lange, Judith Hermann oder Zoë Jenny waren das, und sie galten über Nacht als das "Fräuleinwunder" der Gegenwartsliteratur.
Lange hielt sich das nicht, dann verlangte die Welt nach neuen Sensationen und schuf sich Charlotte Roche und Helene Hegemann, deren Sterne freilich schneller sanken, als sich ihre Verlage das vorstellen konnten.
Lärmende Scheindebatten
Und nun der nächste Schub, nun Ronja von Rönne, Jahrgang 1992: Mit ihrem witzigen Blog, zwei, drei Artikel über Feminismus und Depression, die für die erhofften Aufschreie des Protests sorgten und die Autorin zur "Welt"-Redakteurin machten.
Da war es wieder, das Fräuleinwunder, das wunderbar ein paar Wochen lang für lärmende Scheindebatten sorgt, ältere Autoren wie Joachim Lottmann in Wallung bringt und Möchtegernrabauken des Feuilletons wie Georg Diez metaphorisch abstürzen lässt: "Ronja von Rönne wischt das Blau vom Himmel." Darauf muss man kommen.
Entstehen kann ein solches Mirakel nur im Berliner Hauptstadtbiotop. Welche Vorstellung, Ronja von Rönne würde in Stuttgart oder Hamburg wohnen! Alle schillernden Effekte, die ihre Blogeinträge und Grundsatzbetrachtungen erzielten, scheinen jedoch nicht auszureichen. Es muss – da mag man noch sehr über das altmodische Format des Buches spotten – ein Roman her, der von epischem Atem zeugt.
Natürlich hat Ronja von Rönne einen solchen geschrieben, und im letzten Sommer durfte sie auf Einladung eines renommierten Kritikers beim Klagenfurter Bachmann-Wettbewerb auftreten, wenn auch ohne nachhaltige Wirkung.
Überschaubare Handlung, schlichter Satzbau
"Wir kommen" ist ein schmaler Roman. Seine Handlung ist überschaubar, sein schlichter Satzbau geprägt von der Furcht vor komplexen Nebensätzen, sein Stil angereichert durch Füllwörter wie "irgendwie", "irgendwas" und "ziemlich". Deren Vagheit passt zu dem, was Rönnes Protagonisten fühlen und denken.
Jonas, Leonie, Karl und Nora, ihres Zeichens Ich-Erzählerin des Romans, heißen diese junge Menschen, die von Neurosen und Panikattacken gequält sind und, um ihre Einsamkeit zu überwinden, keine Ménage à trois, sondern ein "Viererding" ausprobieren.
Man sitzt gelangweilt am Küchentisch, zerstört beim Meerurlaub seine Smartphones, um – welch utopischer Glanz – unerreichbar zu sein, klagt darüber, dass alles nur "Imitation" und "Rolle" sei, spielt ein bisschen mit dem Generationenbegriff, denkt an Dorfkindheiten zurück, feiert eine Party und scheitert.
Dazu gesellen sich – immer gut – ein Kind, Leonies Tochter Emma-Lou, und ein originelles Tier, eine 390 Gramm wiegende Schildkröte, die auch so heißt und am Ende tot ist. Was Rönne da erzählt, soll, so die Suggestion, das Tagebuch sein, das Nora auf Geheiß ihres Psychiaters schreibt.
Lebensgefühlsprosa und Identifikationsangebot
"Wir kommen" ist kein ganz misslungenes Buch, ist Lebensgefühlsprosa und Identifikationsangebot für alle, die in Berlin fühlen und denken wie Nora & Co. Es lebt vom blogerprobten Wortwitz der Autorin, übt sich in charmanten Paradoxien und stürzt mitunter sprachlich tief ab:
"Auf der Autobahn hoffte ich, in keinen Stau zu geraten, und auf Besserung im Allgemeinen. Es war immer noch zu früh, um voll zu sein, selbst Richtung Stadt. Der Arbeitsverkehr hatte noch nicht begonnen."
So liest man das schnell weg, amüsiert sich gelegentlich und denkt sich wenig dabei und danach. Andere lesen und denken da wohl schärfer, wie der Kollege einer Hamburger Wochenzeitung, der in "Wir kommen" Virtuosität erkennt und vom "Glanzstück eines sich selbst demontierenden Schreibens" redet.
Wir sprechen uns wieder, in ein paar Jahren. Wenn uns das nächste Wunder blüht.