Ronya Othmann: Die Sommer
Hanser Verlag, München 2020
287 Seiten, 22 Euro
Ein zweites Leben neben dem ersten
06:25 Minuten
Ronya Othmann erzählt in "Die Sommer" von einer jungen Frau, die zwischen einem Münchner Vorort und dem kurdisch-jesidischen Heimatdorf ihres Vaters aufwächst. Den Genozid an den Jesiden muss sie am Bildschirm verfolgen. Ihr deutsches Umfeld ist blind dafür.
"Wie eine Prinzessin auf Staatsbesuch" kommt sich Leyla im Nachhinein vor, wenn sie in den Sommern ihrer Kindheit zu ihren Großeltern reiste.
Alles war anders dort, in dem kleinen Dorf im Norden Syriens nahe der türkischen Grenze. Die Sonne brannte, die Erde staubte, oft fiel der Strom aus, man schlief zu mehreren in einem Bett. Komfortabel war das ganz bestimmt nicht und manchmal auch entsetzlich langweilig.
Gemeinschaftsgefühl und Sehnsucht nach Nähe
Und doch haben diese Sommer ein Gemeinschaftsgefühl und eine Sehnsucht nach Nähe in ihr geweckt, die sie nicht mehr loswerden wird. "Als ob sie (...) immer wieder für die Dauer von ein paar Wochen ihr Leben unterbrechen würde, um an einem anderen Ort ein anderes Leben weiterzuführen."
Leyla fällt immer auf. Alles, was sie tut, ist erklärungsbedürftig. Jede Erklärung provoziert neue Fragen, manchmal auch Hohn und Spott.
Wenn sie in ihrer Schule in einem Vorort von München erzählt, sie sei in Kurdistan bei ihren Verwandten gewesen, rufen die türkischen Mitschüler, Kurdistan gäbe es nicht. Wenn sie dagegen erzählt, sie sei in Syrien gewesen, verrät sie ihren Vater, der als staatenloser Kurde Anfang der 1980er Jahre nach Deutschland emigrierte.
Er stammt aus einer kurdisch-jesidischen Familie, wie der Vater der Autorin, ist aber selbst nicht religiös. Als Anhänger der KP bekam er Ärger mit dem syrischen Geheimdienst. Das Pharmazie-Studium wurde ihm wegen seiner Herkunft verweigert.
In szenischen Bruchstücken erzählt
Ronya Othmann, 1993 in München geboren, studiert seit 2014 am Literaturinstitut Leipzig. Sie hat bereits mehrere Preise gewonnen, als Essayistin, als Lyrikerin und zuletzt 2019 den Publikumspreis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt für einen Prosatext. Zusammen mit Cemile Sahin schreibt sie in der taz die meinungsfreudige Kolumne "Orient Express".
"Die Sommer" ist ein umwerfender Debütroman, sehr konkret und anschaulich erzählt, mit starken Figuren und Dialogen, die so ins Romangeschehen integriert sind, dass sein Ton auch dann lebhaft wirkt, wenn er das von Figuren-Erfahrung geprägte Wissen transportiert.
Die Kindheitsmomente in dem zwischen Tirbespî und Rmelan gelegenen Dorf sind in szenischen Bruchstücken erzählt: das Spiel mit der Cousine, die ihr vorwirft, keine Jesidin zu sein, das Kochen mit der Großmutter, ihr Geruch, ihr dünner "Großmutterkörper", sehnig wie ein "Maulesel", der blinde Großvater, die erste heimlich gerauchte Marlboro aus einer stibitzten Packung, die im Jahr darauf nicht mehr in ihrem Versteck zu finden ist.
Eindrückliche Porträts
Je älter Leyla wird, desto mehr drängt sich die politische Situation im Nahen Osten als Fernsehbild in den Vordergrund. Die Auswirkungen des Arabischen Frühlings 2011 bannen den Vater vor den Bildschirm.
Mit dem im August 2014 beginnenden Genozid des IS an Jesiden in Shingal wird die Ausreise der Verwandten dringlicher. Leylas Mutter setzt sich bei allen Behörden für sie ein. Das Gefühl, dass die anderen nicht verstehen können, wie sehr sie die Ereignisse beschäftigen, wird für Leyla als queere Studentin in Leipzig beinahe unerträglich.
Als die Großmutter schließlich in München ankommt, überlebt sie ihren Umzug nur um drei Monate. Die aus ihren Lebensbezügen herausgerissene alte Frau, die in ihrem kleinen Koffer auch ihr selbstbesticktes Leichentuch mitgebracht hat, gehört zu den eindrücklichsten Menschendarstellungen dieses Romans.
Wie Sherko Fatah, dessen kurdischer Vater aus dem Nordirak stammt und in die DDR emigrierte, verfügt Ronya Othmann über eine große Bandbreite sprachlicher Ausdrucksweisen. Sie gehört einer Generation an, die leichthändig zwischen Theorie, Politik, Poesie und Prosa wechselt, gleichermaßen angriffslustig wie anpassungsbereit. Und sie hat eine Menge Themen auf ihrer Agenda: eine Debütantin, der man viel zutrauen darf.