Rosmarie Waldrop: "Pippins Tochters Taschentuch"

Im Untergrund bohrt ein beißender Witz

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Buchcover "Pippins Tochters Taschentuch" von Rosmarie Waldrop
Dieser Roman schmatzt nur so vor Sprachlust: "Pippins Tochters Taschentuch" von Rosmarie Waldrop. © Deutschlandradio / Suhrkamp Verlag
Von Maike Albath |
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So eine Erforschung der eigenen Herkunft liest man selten. Rosmarie Waldrops "Pippins Tochters Taschentuch" erzählt von Begehren, Untreue und zweifelhafter Vaterschaft. Ein Roman, der nur so grunzt, stöhnt, schlabbert und schmatzt vor Sprachlust.
Dieser Roman schmatzt nur so vor Sprachlust. Er grunzt, stöhnt und schlabbert, schlürft und wabert. Passenderweise geht es sehr viel um Sex, um Begehren und Verweigerung, um Erfüllung und Verlust, um Untreue, Regelverletzung und zweifelhafte Vaterschaft. Und all das mitten im Nationalsozialismus.
Die amerikanische Lyrikerin und Übersetzerin Rosmarie Waldrop, Jahrgang 1935, gebürtige Deutsche aus Kitzingen, unternimmt in "Pippins Tochters Taschentuch" eine spezielle Erforschung der eigenen Herkunft.
Dass diese Versenkung in die Vergangenheit auch auf Deutsch so grandios ist, liegt an der gerade für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierten Übersetzung von Ann Cotten.
Cotten arbeitet das Drahtseilkünstlerinnenhafte von Rosmarie Waldrop aufs Herrlichste nach. Denn Waldrop spielt nicht nur mit den klanglichen Qualitäten der Sprache, sondern auch mit dem Rhythmus des Satzbaus, schlägt Funken aus abrupten Kehrtwendungen, setzt Akzente mit überraschenden Zwischenüberschriften.

Naturmystisch durchdrungener Vater

Zu diesem Gestus passt auch der Beruf ihrer Icherzählerin Lucy: Die kinderlose Ehefrau aus Providence ist Pianistin. Getrieben von der Frage, ob ihre Zwillingsschwestern möglicherweise die Töchter des Geliebten ihrer Mutter sein könnten, wendet sie sich nach einem halben Jahrhundert in den USA an die ältere Schwester Andrea und spricht sie direkt an.
Briefausschnitte, Dialoge, Erinnerungsfetzen, kleine Szenen und Genrebilder aus dem nach und nach immer stärker von sich selbst berauschten, antisemitischen Deutschland blitzen auf.
Im selben Atemzug thematisiert Lucy ihre Art der Annäherung und denkt über ihr Erkenntnisinteresse nach. Sie berichtet von Proben, gibt zu, dass auch sie einen Liebhaber hat, und reagiert auf Erwiderungen Andreas, über die wir nur spekulieren können.
Es sei eben keine schöne Geschichte, warnt uns Lucy schon auf der ersten Seite und serviert prompt Intimitäten. Ihre vor Sinnlichkeit nur so berstende, dennoch kühle Mutter Frederika weist den naturmystisch durchdrungenen Vater, einen Lehrer, oft zurück.
Stattdessen muss – ausgerechnet – sein Weltkriegsgenosse und bester Freund Franz als Ersatz herhalten. "Ein Jude, aber er ist in Ordnung", lässt Josef verlauten. "Nicht der übliche Orpheus-Typ: fett. Doppelte Eistüte. (…) Sprudelnd seine Gestik: energetische Tritoni, Septimsprünge, Doppelpunkte. Grazil."

Stolpern zwischen den Zeitebenen

Mit ihm lebt die unersättliche Frederika ihre Gelüste aus, doch schon bald kommt es zu den üblichen Verwicklungen, die nach der Geburt der Zwillinge einen Gerichtsprozess zur Folge haben.
Pikant wird das Ganze, als die Familie umzieht und Josef vielleicht aus Rache zum Parteigänger der Nazis wird – könnte es sein, dass er Kuckuckskinder aufzieht? Er muss alles vertuschen, auch die angedrohte Unterhaltsklage.
Natürlich entfaltet Lucy die Geschehnisse nicht so linear, sondern stolpert zwischen den Zeitebenen und Lebensentwürfen hin und her. So schmerzhaft diese Vergangenheitsexploration auch ausfällt: Waldrop münzt das Ganze in eine ästhetische Erfahrung um. Im Untergrund bohrt ein beißender Witz.

Rosmarie Waldrop: "Pippins Tochters Taschentuch"
Roman. Aus dem Englischen von Ann Cotten
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
276 Seiten, 24 Euro

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