Rousseau als philosophischer Scharlatan
In seinem Roman "Wintzenried" beschreibt Karl-Heinz Ott den Philosophen Jean-Jacques Rousseau als einen Psychopaten, der vor allem von Narzissmus und Größenwahn geleitet ist. Ein aufklärerisches, sehr unterhaltsames Buch - und eine Dekonstruktion von Philosophie.
Wenn Jean-Jacques Rousseau nicht eine Erfindung wäre, dann hätte es ihn geben müssen. Genau sagen lässt sich das nicht, denn Rousseaus "Bekenntnisse" sind so romanhaft, die Person, als die er sich dort entwirft, ist so unmöglich, dass jede spätere Bemühung um eine ordentliche Biografie dagegen verblassen muss. Karl-Heinz Ott, geboren 1957 im schwäbischen Ehingen, studierter Philosoph und Musikwissenschaftler, erfahrenen Dramaturg und Autor, hat das Leben des französischen Philosophen deshalb gleich als das genommen, was es ist: als Psychogramm eines Psychopathen und als endlosen Skandal. Fiktion und Wirklichkeit lassen sich darin nicht genau unterscheiden, aber dieses Problem ist gewissermaßen den Tatsachen geschuldet. Der Satz, mit dem Ott seinen Rousseau-Roman eröffnet, deutet an, dass man sich auf einiges gefasst machen muss: "Er liegt im Bett, onaniert und stellt sich Mama dabei vor."
Mit Distanz und Diskretion ist folglich nicht zu rechnen. "Mama", so erfährt man ein paar Sätze später, ist Rousseaus dreizehn Jahre ältere Geliebte oder auch nur mütterliche Beschützerin. Sie nennt ihn "mein Kleiner", und wenn sie mit ihm schläft, kommt es ihm wie Inzest vor. Merkwürdig auch, dass das Buch nicht nach der Hauptfigur "Rousseau" heißt, sondern vielmehr "Wintzenried", nach einer Gestalt, die von eher marginaler Bedeutung ist. Wintzenried ist der Name des Mannes, der Rousseau als Geliebter im Bett der "Mama" nachfolgt. Er findet nur in wenigen Sätzen Erwähnung. Wintzenried ist seine narzisstische Kränkung, und da Rousseau in Otts Darstellung aus nichts als narzistischen Kränkungen besteht, ist der verwirrende Buchtitel angemessen.
"Wintzenried" ist ein psychologischer und kein philosophischer Roman, also ein komischer Roman über eine tragische Existenz. Wer wissen will, was Rousseau geschrieben hat, sollte besser philosophische Fachbücher lesen. Bei Ott erfährt er darüber nur wenig – und das wenige ist verzerrt durch die Wahrnehmung der Zeitgenossen oder, noch schlimmer, durch den Geniewahn Rousseaus. Der fühlt sich permanent von Gott und der Welt verraten und sehnt sich nach unsterblichem Ruhm – vor allem, um Voltaire zu übertrumpfen und Diderot und die Enzyklopädisten hinter sich zu lassen. Dabei erträgt er die Menschen immer weniger, und vor denen, die ihm vorübergehend etwas näher stehen, kann er nicht lange verbergen, was er wirklich ist: "ein hundsgemeiner Lügner, ein undankbares Schwein, ein affektierter Affe und philosophischer Scharlatan."
Wenn es die Figur Rousseau nicht schon gegeben hätte, hätte Karl-Heinz Ott sie erfinden müssen, so wunderbar fügt sie sich in sein bisheriges Werk. Drei Romane hat er bisher veröffentlicht, zuletzt außerdem eine Biografie über Georg Friedrich Händel. Seine Helden haben häufig damit zu tun, sich vor aufdringlichen Mitmenschen in Sicherheit zu bringen und das eigene labile Selbstbewusstsein durch manische Übersteigerung zu befestigen. Doch je heftiger sie in langen Tiraden die Welt beschimpfen und sich selbst ins Recht setzen, umso unübersehbarer wird ihre zerstörerische Unruhe. Ott führt Innenwelten als Kampfplätze vor, wo die Erinnerungen sich überstürzen, wo Rechtfertigungen in Selbstanklagen umschlagen, wo erotische Phantasien wuchern und Hass und Liebe nicht mehr auseinanderzuhalten sind.
Mit Rousseau geht er noch einen Schritt weiter. In wilder Entschlossenheit holt er alles, was nach Geist, Theorie, Werk und Bedeutung klingen könnte, ins Triebhaft-Animalische. Aufklärung ist nicht mehr als eine persönliche Eitelkeit, ja, es stellt sich die Frage, ob Rousseau überhaupt Aufklärer ist. Ott zeigt ihn als einen Popstar seiner Zeit, von dem keine Wahrheiten zu lernen sind, sondern allenfalls Strategien der Selbstinszenierung. "Wintzenried" ist eine Form der Dekonstruktion von Philosophie. Angewandte Skepsis. Also ein durchaus aufklärerischer und sehr unterhaltsamer Roman auf der Höhe seines Gegenstandes.
Besprochen von Jörg Magenau
Karl-Heinz Ott: Wintzenried
Hoffmann und Campe, Hamburg 2011
208 Seiten, 18,99 Euro
Mit Distanz und Diskretion ist folglich nicht zu rechnen. "Mama", so erfährt man ein paar Sätze später, ist Rousseaus dreizehn Jahre ältere Geliebte oder auch nur mütterliche Beschützerin. Sie nennt ihn "mein Kleiner", und wenn sie mit ihm schläft, kommt es ihm wie Inzest vor. Merkwürdig auch, dass das Buch nicht nach der Hauptfigur "Rousseau" heißt, sondern vielmehr "Wintzenried", nach einer Gestalt, die von eher marginaler Bedeutung ist. Wintzenried ist der Name des Mannes, der Rousseau als Geliebter im Bett der "Mama" nachfolgt. Er findet nur in wenigen Sätzen Erwähnung. Wintzenried ist seine narzisstische Kränkung, und da Rousseau in Otts Darstellung aus nichts als narzistischen Kränkungen besteht, ist der verwirrende Buchtitel angemessen.
"Wintzenried" ist ein psychologischer und kein philosophischer Roman, also ein komischer Roman über eine tragische Existenz. Wer wissen will, was Rousseau geschrieben hat, sollte besser philosophische Fachbücher lesen. Bei Ott erfährt er darüber nur wenig – und das wenige ist verzerrt durch die Wahrnehmung der Zeitgenossen oder, noch schlimmer, durch den Geniewahn Rousseaus. Der fühlt sich permanent von Gott und der Welt verraten und sehnt sich nach unsterblichem Ruhm – vor allem, um Voltaire zu übertrumpfen und Diderot und die Enzyklopädisten hinter sich zu lassen. Dabei erträgt er die Menschen immer weniger, und vor denen, die ihm vorübergehend etwas näher stehen, kann er nicht lange verbergen, was er wirklich ist: "ein hundsgemeiner Lügner, ein undankbares Schwein, ein affektierter Affe und philosophischer Scharlatan."
Wenn es die Figur Rousseau nicht schon gegeben hätte, hätte Karl-Heinz Ott sie erfinden müssen, so wunderbar fügt sie sich in sein bisheriges Werk. Drei Romane hat er bisher veröffentlicht, zuletzt außerdem eine Biografie über Georg Friedrich Händel. Seine Helden haben häufig damit zu tun, sich vor aufdringlichen Mitmenschen in Sicherheit zu bringen und das eigene labile Selbstbewusstsein durch manische Übersteigerung zu befestigen. Doch je heftiger sie in langen Tiraden die Welt beschimpfen und sich selbst ins Recht setzen, umso unübersehbarer wird ihre zerstörerische Unruhe. Ott führt Innenwelten als Kampfplätze vor, wo die Erinnerungen sich überstürzen, wo Rechtfertigungen in Selbstanklagen umschlagen, wo erotische Phantasien wuchern und Hass und Liebe nicht mehr auseinanderzuhalten sind.
Mit Rousseau geht er noch einen Schritt weiter. In wilder Entschlossenheit holt er alles, was nach Geist, Theorie, Werk und Bedeutung klingen könnte, ins Triebhaft-Animalische. Aufklärung ist nicht mehr als eine persönliche Eitelkeit, ja, es stellt sich die Frage, ob Rousseau überhaupt Aufklärer ist. Ott zeigt ihn als einen Popstar seiner Zeit, von dem keine Wahrheiten zu lernen sind, sondern allenfalls Strategien der Selbstinszenierung. "Wintzenried" ist eine Form der Dekonstruktion von Philosophie. Angewandte Skepsis. Also ein durchaus aufklärerischer und sehr unterhaltsamer Roman auf der Höhe seines Gegenstandes.
Besprochen von Jörg Magenau
Karl-Heinz Ott: Wintzenried
Hoffmann und Campe, Hamburg 2011
208 Seiten, 18,99 Euro