Wahlbeobachter in Kirgistan
Unruhige Zeiten in Kirgistan: Nach der Annullierung der Parlamentswahl vom Oktober 2020 und dem Rücktritt des Präsidenten wurde im November 2021 ein neues Parlament gewählt. © imago / Sputnik Kyrgyzstan / Igor Yegorov
Routine frisst Exotik
32:17 Minuten

Es ist ein Job für Abenteuerlustige und schnell Entschlossene, auf den sich viele bewerben. Aber was macht man eigentlich sechs Wochen lang als Wahlbeobachter in einem Land, wenn nur an einem Tag gewählt wird? Ein Erfahrungsbericht.
Kirgistan war für mich nicht mehr als der Name einer jener ehemaligen Sowjetrepubliken in Zentralasien gewesen, die alle auf „-stan“ enden. Bis die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, Jobs als Wahlbeobachter in Kirgistan ausschrieb und ich mich bewarb. Weil es sich um einen weißen Fleck auf meiner persönlichen Landkarte handelte und weil ich für diese sechs Wochen noch keine beruflichen Termine angesetzt hatte. Sechs Wochen, werde ich daheim immer wieder gefragt, wenn ich zu einer Wahlbeobachtung aufbreche: Was machst du sechs Wochen lang dort, die Wahlen sind doch nur an einem Tag?
Das Wissen über Wahlbeobachtungen ist allgemein gering, obwohl sie EU und OSZE seit den 90er-Jahren durchführen. In Deutschland rekrutiert das ZIF, das Zentrum für internationale Friedenseinsätze in Berlin, die Beobachter. Das ZIF, eine Tochter des Auswärtigen Amtes, wird in diesem Jahr 20 Jahre alt.
Auslandserfahrung erwünscht
„Bewerben kann sich im Prinzip jeder, jede deutsche Staatsbürgerin, die Interesse hat“, sagt Matthias Zeller, stellvertretender Leiter des Teams Training. Neben beruflichem Abschluss und fachlicher Qualifikation ist noch anderes Voraussetzung für diesen Job auf Zeit.
„Auch so Dinge wie Tätigkeit als Wahlhelferin in Deutschland, ehrenamtliches Engagement. Man sollte schon ein wenig Auslandserfahrung mitbringen. Sprachkenntnisse sind von Vorteil.“
Die OSZE beobachtet in ihren 57 Mitgliedsstaaten, also in praktisch allen europäischen Ländern einschließlich jenen der ehemaligen Sowjetunion sowie den USA und Kanada. Sie alle haben sich verpflichtet, sich gegenseitig zu Wahlbeobachtungen im eigenen Land einzuladen und können umgekehrt eigene Bürger und Bürgerinnen zu Wahlbeobachtungsmissionen in den anderen Mitgliedsstaaten entsenden.
Die EU hingegen beobachtet außerhalb der OSZE-Staaten, gleichsam im Rest der Welt, allerdings nur dort, wo sie ausdrücklich zur Wahlbeobachtung eingeladen wird. Seit 1993 hat die EU mehr als 200 Wahlbeobachtungsmissionen durchgeführt, bei der OSZE waren es im selben Zeitraum sogar doppelt so viele. Bevor man sich für eine spezielle Mission bewirbt, muss man sich in Deutschland erst für einen Personalpool qualifizieren. Dort werden derzeit rund 600 Namen geführt.
300 Bewerber auf 20 Plätze
„In der Vergangenheit haben wir immer jährlich ausgewählt. Da gab es auf 20 Plätze über 200 Bewerbungen, teilweise 300. Das Interesse ist sehr groß, obwohl es ja zunächst nur ein Ehrenamt ist.“
Zumindest für die Kurzzeitbeobachter, die nur ein paar Tage rund um den Wahltag eingesetzt sind und lediglich die Kosten für Flug und Unterkunft ersetzt erhalten. Langzeitbeobachter, die sechs Wochen und mehr im Land sind, erhalten einen deutschen Arbeitsvertrag, sagt die stellvertretende Direktorin des ZIF, Astrid Irrgang.
„Und verdienen dort sicherlich nicht so, dass sie danach eine Hausfinanzierung damit schaffen, aber es ist ein sehr ordentliches und gutes Gehalt für die Passage der Wahlbeobachtung.“
Die EU ist etwas großzügiger, sie kommt ebenfalls für den Flug auf, die Nächtigung muss man allerdings vom Taggeld bezahlen, das bei Langzeitbeobachtern 280 Euro ausmacht. Je nachdem, ob man das Hilton oder ein Baumhaus für sich auswählt, fällt die Höhe des Geldbetrags aus, der einem nachher bleibt.
13 Beobachterteams im ganzen Land
Auf dem Flug nach Bischkek, der Hauptstadt von Kirgistan. Zu Sowjetzeiten hieß die Stadt Frunse, wie ich mittlerweile weiß, benannt nach einem von da stammenden bolschewistischen General. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion erhielt die Millionenstadt, die nur 20 Kilometer von der Grenze zu Kasachstan entfernt ist, ihren früheren Namen wieder zurück.

Militärparade in Bischkek. Die Millionenstadt liegt nur 20 Kilometer von der Grenze zu Kasachstan entfernt.© imago / Sputnik / Tabyldy Kadyrbekov
Ich habe mich auch diesmal wieder zu einer Langzeitbeobachtung gemeldet. Um zwei Uhr nachts lande ich auf dem Flughafen von Bischkek. Die insgesamt 26 Langzeitbeobachter, die 13 Zweierteams bilden werden, sind vorerst in einem Hotel im Stadtzentrum untergebracht. Eine dicke blaue Mappe mit Informationen über die Mission liegt in meinem Zimmer: Politischer Überblick, Wahlsystem, gesetzliche Grundlagen, Medienlandschaft, Wählerregistrierung, Sicherheitsbestimmungen, personelle Einteilung der Zweierteams. Meine Teamkollegin kommt aus den USA.
Online-Briefing im Hotelzimmer
Normalerweise trifft man sich am nächsten Morgen in einem Tagungsraum zu einem mehrstündigen Briefing, wo die Mitglieder des Kernteams die Langzeitbeobachter in die Mission einweisen. Diesmal ist es wegen Corona anders: Wir sitzen verstreut in unseren Hotelzimmern und erhalten das Briefing in einer Online-Schaltung aus dem Hyatt-Hotel gegenüber. Das Kernteam, das dort schon eine Woche früher eingezogen ist und eine Woche länger bleiben wird, bildet den Expertenstab des ganzen Unternehmens. Es besteht diesmal aus einer Juristin, zwei Wahlanalysten, einem Medienbeobachter, einer Sicherheitsexpertin, einem Logistikexperten, einer Finanzmanagerin, einem Koordinator für die 13 Beobachterteams und einem politischen Analysten. Er heißt Giovanni Gabassi und kommt aus Triest. Ihn treffe ich ein paar Tage später im Hotel gegenüber, wo das Kernteam untergebracht ist.
„Als politischer Analyst verfolgt man die Wahlkampagne, also vor dem Wahltag. Das Core-Team kommt ins Land, etwa sechs Wochen vor dem Wahltag, und darunter gibt es eigentlich auch einen Political Analyst, der eine Reihe von Treffen mit den verschiedenen Parteien organisiert, den Ablauf der Wahlkampagne verfolgt und dann den Background und das Campaign Environment, Sektionen in den verschiedenen Berichten vorbereitet.“
Team 01-Bischkek
Giovanni hat Erfahrung mit der OSZE. Mehrere Jahre lang hat er für die Organisation in Serbien gearbeitet. Kirgistan ist für ihn Neuland, so wie für mich. Nicht aber für meine amerikanische Teampartnerin, die schon 24 Beobachtereinsätze hinter sich hat, einige davon in Kirgistan. Das lässt sie mich dann auch sofort spüren. Sie weist mich zurecht, lässt mich auflaufen – und das Ganze in Anwesenheit von Übersetzerin und Fahrern.
Als ich sie eines Abends vorsichtig darauf hinweise, dass ich nicht vor unseren Mitarbeitern bloßgestellt werden möchte und sie mit einer mehrminütigen Schimpfkanonade antwortet, ahne ich, dass diese Mission nicht leicht für mich werden wird.
Am Tag nach der Einweisung durch das Kernteam brechen die Beobachter in alle Windrichtungen zu den ihnen zugewiesenen Einsatzorten auf, teils mit dem Flugzeug, teils mit dem Auto. Wie sagte Astrid Irrgang vom ZIF in Berlin?
„Es gibt ein schönes Zitat - ich weiß nicht, von wem es ist -, dass Wahlbeobachter die Augen und Ohren der Weltgemeinschaft sind." Und diese Erfahrung, wie wichtig das ist, an allen Orten der Welt möglichst die Augen und Ohren der Weltgemeinschaft präsent zu haben, die bestätigt sich über die Jahre.
Jedes Zweierteam beobachtet in einem Gebiet, das der Größe eines Landkreises entspricht. Nur meine Partnerin und ich bleiben zurück, denn wir sind in der Hauptstadt Bischkek eingesetzt: Team 01-Bischkek. Unsere beiden Fahrer heißen Maxim und Sergeij. Sie sprechen außer Russisch nur ein paar Brocken Englisch. Kirgisisch, das seit der Wende Staatssprache ist, können sie nicht. Sie sind Angehörige der seit Ende des Sowjetimperiums schrumpfenden russischen Minderheit, die hauptsächlich in der Hauptstadt Bischkek lebt. Und wir lernen unsere Assistentin Jill kennen, eine junge Frau, die unsere Dolmetscherin ist. Aber nicht nur das: Jill weiß als Kind der Stadt, wo hier welche Parteien ihre Zentralen haben, macht im Auto telefonisch die Termine mit unseren Gesprächspartnern aus und gibt auch sonst hilfreiche Tipps. Etwa, wohin wir unsere Kleidung zur Reinigung geben können.
Einmischen unerwünscht
Mit der Arbeit geht es sofort los: Wir machen einen Höflichkeitsbesuch beim Bürgermeister, stellen uns bei der Polizei vor, vereinbaren Gesprächstermine mit Vertretern von Parteien, die an der Wahl teilnehmen und organisieren Besuche bei den Wahlbehörden. Die halten in diesen Wochen auch Trainings für die Kreis-Wahlleiter ab. Knapp zwei Dutzend Männer und Frauen sitzen in einem Raum im dritten Stock eines gesichtslosen mehrstöckigen Hauses und hören der Frau von der Wahlbehörde zu. Sie referiert über den Wahlablauf, worauf im Wahllokal zu achten ist und wann ein Stimmzettel ungültig ist.
Uns wurde ein Platz hinten zugewiesen und Jill übersetzt flüsternd das Wichtigste für uns. Ein junger Sekretär der Behörde ist vor Beginn zu uns gekommen und wollte neugierig wissen, ob man auch alles richtig mache in der Organisation der Wahl. Eine heikle Frage, die Wahlbeobachtern immer wieder gestellt wird. Dann heißt es diplomatisch zu antworten, denn wir haben uns nicht einzumischen, keine Ratschläge zu geben. Empfehlungen spricht nur die Mission in ihren offiziellen Stellungnahmen aus.
Lebhaft wird es beim Funktionstest der elektronischen Wahlurne. Die Leiter der Wahllokale scharen sich um einen weißen Kasten, der einem Schredder ähnelt, groß wie eine Mülltonne, in dessen oberen Schlitz vorsichtig der Stimmzettel mit der Schrift nach unten eingeführt werden muss. Das Gerät liest das Ergebnis beim Einwurf automatisch aus und übermittelt es online zur Wahlzentrale in Bischkek. Somit steht das Ergebnis für ganz Kirgistan praktisch mit Schließung der Wahllokale fest. Trotzdem wird nachher auch noch händisch ausgezählt. Manipulationen sind dadurch ausgeschlossen.
Deshalb bekommen wir in unseren Gesprächen immer wieder zu hören: Im Wahllokal ist jeder Betrug ausgeschlossen. Wenn, dann passiert er außerhalb. Darüber erzählen uns manche Parteienvertreter: Wie andere Parteien Stimmen kaufen würden, ja sogar, wann angeblich welcher Kandidat von der Konkurrenz wo von Tür zu Tür gehen und die versprochenen Geldsummen auszahlen werde.
Reibungen mit der Teampartnerin
Der Arbeitsablauf von Langzeitbeobachtern ist überall ähnlich: Man bereitet im Büro die Tagesabläufe vor und ist von früh bis spät unterwegs. Dabei sammeln die Teams in unzähligen Gesprächen die Puzzlesteine an Informationen ein, die sich zunehmend zu einer großen Momentaufnahme der Gesellschaft zusammensetzen. Der Gouverneur des benachbarten Verwaltungsbezirks Chuy Oblast, Tentishev Erkin Satkynbaevich, lässt unseren Besuch bei ihm sogar filmen und samt seiner Begrüßungsworte auf Facebook posten.
Wir lassen uns die Listen der Wahllokale ausdrucken, fragen bei den Behörden nach, ob es Unstimmigkeiten mit den Wählerlisten gibt. Die Arbeit wird immer mühsamer, weil Vorwürfe und schlechte Laune meiner Teampartnerin zunehmen. Ich weiß von früheren Einsätzen, dass man Glück oder Pech mit dem- oder derjenigen haben kann, der oder die als Teampartner zugewiesen wird. Die Gefahr von Reibungen wird durch den zunehmenden Arbeitsdruck verschärft und die Tatsache, dass man von frühmorgens bis spätabends ohne richtig freies Wochenende aneinander gekettet ist. Wie ein Ehepaar auf Zeit, eingegliedert in eine aus dem nichts entstandene Firma, die über Wochen an einem für alle fremden Ort wie ein Uhrwerk zu funktionieren hat und die aus Menschen unterschiedlichster Kulturen besteht.
Demokratie vs. Korruption
Im Stadtbild von Bischkek mehren sich inzwischen die riesigen Poster und Plakate mit den Konterfeis der einzelnen Kandidaten und Kandidatinnen. Kirgistan gilt als das am weitesten demokratisch entwickelte Land Zentralasiens. 2005 und 2010 haben revolutionsartige Umstürze die korrupten Staatspräsidenten weggefegt. Doch die Weltpolitik beachtet das Sechs-Millionen-Einwohnerland kaum, das mit Armut und Bestechung kämpft.

Armut, Korruption und eine zerbrechliche Demokratie: Kirgistan hat mit vielen Problemen zu kämpfen.© Deutschlandradio / Stefan May
Präsident Sadyr Dschaparow hat sich in den letzten Monaten einen deutlichen Machtzuwachs verschafft. Die Demokratie scheint Rückschläge erlitten zu haben. Und das, obwohl die OSZE seit der Wende alle Wahlen in Kirgistan beobachtet und in ihren Abschlussberichten zahlreiche Empfehlungen abgegeben hat. Ich denke an meine Wahlbeobachtungseinsätze in Bosnien und Belarus. Das eine Land schwebt in der Gefahr auseinanderzubrechen, im anderen hat sich die Diktatur seit dem vorvorigen Sommer weiter verschärft. Welchen Sinn haben da Wahlbeobachtungen, wenn die Staatsführungen, die Politiker nachher ohnedies machen, was sie wollen?
In meinem Hotel wohnt auch die Leiterin unserer Beobachtungsmission, Dame Audry Glover aus Großbritannien. In den 90ern war sie Direktorin von ODIHR, des für die Wahlbeobachtungen zuständigen Büros der OSZE in Warschau. Bei einer unserer täglichen Begegnungen im Frühstücksraum frage ich sie, ob es nicht eine mitunter frustrierende Arbeit ist. „Ich glaube, das ist immer recht bedauerlich. Die meisten Empfehlungen im Abschlussbericht werden nicht oft umgesetzt, sondern die Staaten sind ungehalten, was ungünstig ist, denn die Empfehlungen sind hilfreich gemeint. Und vielleicht war etwas dabei, das einem Land hätte helfen können, soweit möglich.“
Mehrere hundert Beobachter am Wahltag
Der Aufwand ist enorm: Ein Stab von einem Dutzend Experten und je nach Größe des Landes dutzende Langzeitbeobachter sind mindestens fünf Wochen im Land, bei zwei Durchgängen oder Stichwahlen mehr als doppelt so lange. Sie alle tragen minutiös Informationen zusammen, befragen Parteien, Kandidaten, Medien, Wahlbehörden, lokale Beobachter und Gerichte und gießen das, was sie erfahren, nach eingehender Analyse in ihre Berichte. Rund um den Wahltag vergrößert sich eine Mission um mehrere hundert Kurzzeitbeobachter.
Dennoch will Dame Glover die Möglichkeit von Wahlbeobachtungen in anderen Ländern nicht missen. „Ich glaube, es ist wichtig, für die Demokratie zu arbeiten. Wir machen das schon eine lange Zeit und in verschiedenen Bereichen. So wissen wir, wie es läuft. Und ich denke, das Hauptziel ist nicht, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen, sondern einem Land in seiner Entwicklung zu helfen.“
Zweimal zieht der Winter mit dichtem Schneefall und Temperatursturz über Bischkek, ich muss den Ventilator im Hotelzimmer einschalten, der einen Höllenlärm verursacht. Da die Schneeräumung in der Stadt nur schlecht funktioniert, sind die Bürgersteige nach wenigen Stunden gefährlich glatte Buckelpisten.
Ebenso schnell scheint es Frühling zu werden, doch das hilft meiner Stimmung nicht aus dem Tief, in das sie im Lauf der Wochen rutscht. Jeden Montag haben die Teams einen Wochenbericht an das Kernteam zu schicken, in dem sie ihre Interviews analysieren, ihre Beobachtungen melden sowie Fragen der Experten im Stab beantworten.
Meine Partnerin setzt trotz aller Erfahrung falsche Schwerpunkte, wir versäumen Abgabetermine für unsere Berichte. Dreimal suche ich den Koordinator für die Langzeitbeobachter im Hotel auf der anderen Straßenseite auf, wo das Kernteam seinen Sitz hat und schütte ihm mein Herz aus. Doch er interveniert nicht, rät mir durchzuhalten, meiner Kollegin nachzugeben und sie einfach tun zu lassen – alles Dinge, die ich sowieso schon mache.
Ablenkung im Opernhaus
Einmal in der Woche gelingt es mir nach der Arbeit, die Anspannung beim Schwimmen im kleinen Pool im Keller des Hotels zu lösen. Das hält aber nur für kurze Zeit, denn jeden Abend erhalten wir eine Mail mit neuen Aufträgen der Experten. Parallel zur sich anhäufenden Arbeit sollen wir die Ankunft der Kurzzeitbeobachter vorbereiten. Wir haben für sie ein Heft mit Informationen zusammenzustellen, Fahrer und Assistenten für jedes Zweierteam zu rekrutieren und auf deren Fähigkeiten zu überprüfen. Und sie brauchen eine Unterkunft.
Nur einmal gelingt mir für ein paar Stunden echte Ablenkung: Bei einem Besuch im Opernhaus von Bischkek, schräg gegenüber vom Hotel. Auf dem Programm steht das Ballett „Giselle“ von Adolphe Adam. Auffallend viel Militär, stolz die Ordensbrust präsentierend, sitzt im Publikum. In der Pause bietet das Büfett Brötchen mit rotem Kaviar und kirgisischen Kognak im Achtelliter-Glas.
Je näher der Wahltag rückt schieben sich Termine und Anfragen immer mehr aneinander, Stress und Belastung nehmen weiter zu. Unsere Assistentin gesteht mir, dass sie sich von meiner Kollegin wie gefoltert fühle. Inzwischen hat diese ihre Aggression nämlich auch auf die Übersetzerin und zuletzt sogar auf die Fahrer übertragen.
Routine schluckt Exotik. Schon beim Aufwachen überfällt mich der bleischwere Gedanke: Was werde ich heute wieder aushalten und geradebügeln müssen? Die anfängliche Neugier auf das tägliche Frühstücksbüfett mit seinen wechselnden Fleisch- und Fischgerichten ist verflogen. Ich stochere lustlos auf meinem Teller, während in der Ecke russisches Fernsehen läuft. Der atemberaubende Blick vom Balkon auf die gar nicht so weit entfernten tiefverschneiten Fünftausender des Tien-Shan-Gebirges im Glanz der aufgehenden Morgensonne hat seinen Reiz verloren. So wie der stündliche Schlag vom Uhrturm im Stadtzentrum, der dem Klang eines heimischen Instruments, einer Maultrommel, nachgebildet ist.
Busse karren Wahlvolk zur Kundgebung
Zudem entwickelt man als Beobachter mit der Zeit eine Art Paranoia: Nachdem wir uns eines Nachmittags mit einem Kandidaten der Opposition im kuscheligen Café Vanilla Sky getroffen haben, nimmt an einem Nebentisch eine junge Frau Platz, die deutlich ihren Rücken streckt, um zu hören, wie wir das vorangegangene Gespräch beurteilen. Offenbar eine Vertraute des Kandidaten. In Belarus war es die Geheimpolizei, deren schattenhafte Präsenz immer wieder bei unseren Interviews auffiel, wenn man aufmerksam genug unterwegs war. Irgendwann beginnt man die Beobachtung der Beobachter aber auch dort zu vermuten, wo gar nichts ist.
Im Lauf der Wochen werden auch die Wahlkundgebungen mehr. Auf dem zentralen Siegesplatz zur Erinnerung an den großen vaterländischen Krieg brennt eine ewige Flamme unter der stilisierten Betonkonstruktion einer Jurte, dem traditionellen Wohnzelt der kirgisischen Nomaden. Davor ist eine Tribüne aufgebaut, auf der der Spitzenkandidat der Partei Butun Kirgistan, Adakhan Madumarov, eine fast einstündige Rede hält. Seit kurzem ist Butun Kirgistan mit der kommunistischen Partei fusioniert.

Wahlkundgebung in der Hauptstadt: Auch solche Veranstaltungen nehmen Langzeit-Wahlbeobachter in den Blick.© Deutschlandradio / Stefan May
Doch um Ideologie geht es bei den 21 diesmal antretenden Parteien nie. In erster Linie wird unterschieden, ob eine Partei für oder gegen den Präsidenten ist. Viele Parteien gehen im Lauf der Zeit unter, neue bilden sich. Doch die Köpfe an der Spitze bleiben oft dieselben.
Ein paar hundert Menschen haben sich, teils mit roten Fahnen und dem Parteisymbol darauf, auf dem Siegesplatz versammelt und hören dem Redner zu. Sie sind ländlich gekleidet, die Frauen vielfach mit Kopftüchern, wie ich es aus Bischkek nicht kenne. An den Rändern des Platzes parken mehrere Kleinbusse. Offenbar sind Unterstützer aus ländlichen Regionen, möglicherweise gegen Geld, eigens zur Veranstaltung herangekarrt worden. Ein wichtiges Detail, das wir in unserem Bericht anmerken werden, denn über die Einzelheiten jeder besuchten Kundgebung haben wir das Kernteam zu unterrichten.
Informationen aus 2000 Wahllokalen
Vor der Ankunft der Kurzzeitbeobachter erhalten wir von dem aus Bosnien stammenden Logistikexperten Ruslan Informationen über deren baldiges Eintreffen. 350 werden es sein, weniger als erwartet. Meinem Team werden 18 Kurzzeitbeobachter, also neun Teams, zugeordnet: Russen, Franzosen, Italienerinnen, Briten, Polinnen. Ein paar Tage vor der Wahl treffen sie ein und stellen sich für den Wahltag nach eigenem Ermessen eine Route zusammen, auf der sie etwa zehn Wahllokale besuchen werden. Am Sonntag starten sie schon vor acht Uhr früh, um bei der Öffnung eines Wahllokals dabei zu sein.
Die Beobachter sind mit Fragebögen ausgestattet, die sie nach jedem Besuch eines Wahllokals auszufüllen haben. Angekreuzt wird mit einem dicken Stift, dem so genannten Electronic Pen, mit dem sie anschließend auf den Bildschirm eines dazugehörenden Handys tippen, und schon scheinen alle Daten im Computer des Wahlanalysten im Kernteam auf. Die 350 Wahlbeobachter bilden 175 Teams. Wenn jedes von ihnen zehn Wahllokale besucht, stehen am Wahlabend Informationen über bis zu 2000 Wahllokale zur Verfügung: in wie vielen Lokalen der Kreiswahlleiter männlich oder weiblich war, wo sich Personen unerlaubt im Wahllokal befanden, in erster Linie Polizisten, wo verbotenerweise Wahlwerbung aushing, wie viele Wahllokale barrierefrei zugänglich waren, wo es Unruhe oder Drängeleien gab, wo das Wahlgeheimnis nicht gewahrt wurde, wo Beschwerden von Wählern aufgenommen wurden.
Wähler fordern Unterhaltungsprogramm
Auch meine Kollegin und ich besuchen an diesem Sonntag drei Wahllokale. In zweien fordern je eine Wählerin und ein Wähler lautstark und fröhlich Musik und Unterhaltung. Ältere Wähler vermissen mitunter eine Tradition aus Sowjetzeiten, als man mit Attraktionen die Wähler an die Urnen locken wollte. In Belarus habe ich es vor sechs Jahren noch erlebt: das Wahllokal in der Musikschule, wo die Kinder ein Konzert gaben, oder den Bauernmarkt vor einem anderen Wahllokal.
In Kirgistan sind die Wahlzellen zur Raummitte hin offen, damit leicht bemerkt werden kann, sollte jemand seinen ausgefüllten Wahlzettel fotografieren, zum Beweis für seinen Geldgeber, das Kreuzchen auch vereinbarungsgemäß gesetzt zu haben. Diese Anordnung der Wahlzellen geht aber zulasten des Wahlgeheimnisses.
Doch darum scheren sich die Wähler und Wählerinnen ohnehin nicht sonderlich. Sie spazieren gemächlich mit dem offenen Wahlzettel von der Koje zur Urne und haben dort vielfach Probleme mit dem ordnungsgemäßen Einwurf. Die zusätzlich zur elektronischen Zählung erfolgende manuelle Stimmenauszählung nach Wahlschluss dauert bis in die Morgenstunden. Die Kurzzeitbeobachter sind bereits hundemüde. Einen Tag später reisen sie in ihre Heimatländer zurück.
Die Langzeitbeobachter bleiben noch einige Tage. Zeit, die Nachwahlsituation zu beobachten, sich von dem einen oder anderen Interviewpartner zu verabschieden, aber auch um ein paar Einkäufe in der Stadt zu erledigen. Kirgistan ist für seine handwerklichen Produkte aus Filz bekannt. Ganz zum Schluss gelingt es mir, erschöpft, aber erleichtert, abends abzuschalten, in einem der Restaurants der Stadt bei Lammspieß und kirgisischem Wein und sogar Live-Musik.
Am letzten Tag werden Computer und Handys zurückgegeben, die Finanzen abgerechnet. Die Mission beendet ihre Existenz. Ich treffe nochmals den politischen Experten Giovanni Gabassi im Hotel gegenüber. Er sagt, er sei erleichtert.
„Es ist natürlich relativ anstrengend, würde ich sagen, die Arbeitszeiten sind ziemlich lang. Man bleibt sehr oft bis sieben, acht im Büro. Einige Tage bin ich noch länger im Büro geblieben, aber natürlich ist man auch zufrieden, dass man einen guten Job gemacht hat.“
Bilanz am Flughafen
Für Missionschefin Dame Audry Glover ist der Job hingegen noch nicht zu Ende: „Es ist noch immer Arbeit zu erledigen, wir haben Beschwerden und Anfechtungen erhalten und arbeiten gerade am Endbericht. Es ist also jetzt noch nicht das Ende der Übung.“
Beim letzten Frühstück in Bischkek erzählt mir ein Kollege, dass er meine Partnerin von seiner letzten Mission im Moldawien kenne. Damals habe man ihr Team teilen müssen, weil es so große Schwierigkeiten mit ihr gab. Knapp eine Woche nach der Wahl stehen wir wieder am Flughafen. Zeit, persönliche Bilanz zu ziehen. Maxim Menschenin war als Langzeitbeobachter in Talas, im Westen des Landes, eingesetzt. Er arbeitet für die SPD in Hamburg:
„Ich bin extrem glücklich. Es war meine erste Erfahrung als Langzeit-Wahlbeobachter, und ich wurde mit einer Kollegin gepaart, die sehr erfahren ist, aus Großbritannien, mit der ich wunderbar zusammengearbeitet habe. Wir hatten ein fantastisches Team. Es ist einfach ein Gefühl der Erschöpfung auf alle Fälle. Es waren sehr intensive Wochen, an denen komplett durchgearbeitet wurde.“
Aber Maxim ist zufrieden mit dem Geleisteten und denkt schon an ein nächstes Mal: „Definitiv. Das war eine großartige Erfahrung. Das ist ja immer eine Schwierigkeit, gerade als Angestellter, dort eben die Zeit zu finden, ich habe jetzt quasi in meinem Urlaub gearbeitet, aber ich werde es auf alle Fälle, wenn es die Konstellation zulässt, noch einmal machen.“
Viele Kreuze im Kästchen "gegen alle"
Mir bescheren Wahlbeobachtungen stets neue Erfahrungen, wie anderswo gewählt wird. In Kirgistan etwa kann man sich auf dem Wahlzettel nicht nur für bestimmte Parteien oder Kandidaten entscheiden, sondern auch ein Kästchen ankreuzen, wo man sich „gegen alle“ ausspricht. Tatsächlich hat in zwei kirgisischen Bezirken, just in Bischkek, „gegen alle“ mit deutlichem Abstand zum nächsten echten Kandidaten gewonnen. Rund ein Drittel – bei einer Wahlbeteiligung von nur 37 Prozent. Das sagt viel über das Vertrauen der Kirgisen in ihre Politiker aus.
In ihrer vorläufigen Stellungnahme unmittelbar nach dem Wahltag billigte die OSZE-Mission Kirgistan eine generell korrekt durchgeführte Parlamentswahl zu, monierte aber unter anderem Probleme im Ablauf der Stimmauszählung.
Wahlbeobachtungen sind nicht vergeblich, sagt auch die stellvertretende Direktorin des ZIF, Astrid Irrgang. Wenn in einem Staat, wie etwa im vergangenen Jahr Russland, eine Wahlbeobachtung kurzfristig absagt wird, ist das ein Signal, das auf der Welt gehört und gedeutet wird.
Auf dem Heimflug überlege ich, dass es in Kirgistan um Grundsätzlicheres geht, bevor wir noch nach Barrierefreiheit und Geschlecht der Kreiswahlleiter fragen: Es geht in dem Land in erster Linie um die Bekämpfung von Korruption, denn erst wenn das gelingt, wird der Glaube an die Politik wachsen und sich die Wahlbeteiligung erhöhen. Das zu beurteilen obliegt aber nicht einer Wahlbeobachtung.
Gegen meine Kollegin haben sowohl die Assistentin als auch ich eine Beschwerde bei der OSZE eingereicht. Eine Antwort ist bisher ausgeblieben.