Roz Chast: "Können wir nicht über was anderes reden? Meine Eltern und ich"

Willkommen in der Pflegehölle

Die amerikanische Cartoonistin Roz Chast
Die amerikanische Cartoonistin Roz Chast im Februar 2012 in Frankfurt am Main. © picture alliance / dpa / Foto: Emily Wabitsch
Von Kim Kindermann |
Wenn die eigenen Eltern pflegebedürftig werden, tauschen sie die Rollen mit ihren Kindern. Für die ist das keineswegs spaßig, wie Roz Chast in ihrer Graphic Novel "Können wir nicht über was anderes reden?" mit viel Witz und Selbstironie schildert.
Wenn die eigenen Eltern alt und krank werden, dann steht die Welt plötzlich Kopf. Man tauscht die Rollen, ob man will oder nicht. Das ist schockierend, macht wütend und verzweifelt. Soll das so sein? Müssen sich meine Eltern nicht ein Leben lang um mich sorgen? Könnten sie nicht besser auf sich selbst aufpassen? Mich schonen? Nein, können sie nicht.

Die US-amerikanische Karikaturistin Roz Chast hat jetzt ein unglaublich geniales und schonungsloses Buch über die letzten Jahre ihrer Eltern geschrieben und gezeichnet: "Können wir nicht über was anderes reden?" heißt es und erzählt mit Witz, Trauer, Liebe, Wut und Zärtlichkeit vom Bad der Gefühle, das alle Beteiligten in solch einer schwierigen Zeit durchleben. Denn wie die meisten haben auch Chasts Eltern das Altwerden mit seinen angstmachenden Folgen stets verdrängt, und so kommt es zum unvermeidlichen Clash, als klar ist: So geht es nicht mehr weiter.

"Da kam was ganz Dickes auf uns zu", schreibt Roz Chast mit der ihr eigenen Lakonie, über die sieben beziehungsweise neun Jahre, die sie ihre Eltern bis zu deren Tod begleitet. Auf fast 200 Seiten taucht man mit ihr tief in dieses Dickicht ein. Erlebt die ersten Zusammenbrüche, den zerbröckelnden Alltag, die immer größer werdende Schrulligkeit, Verwahrlosung und den mentalen Abbau quasi aus erster Hand mit. Sei es beim Staubwischen, Strumpfhosenkaufen oder Telefonieren. Alles läuft aus dem Ruder, das ist mal komisch, oft skurril und dann auch wieder todtraurig.
Eine herrische Mutter, die Angst und Schrecken verbreitet
Roz Chast und ihre Cartoons sind berühmt für ihre schonungslosen Sicht auf den Alltag, und mit genau diesem Blick schaut sie nun auf sich und ihre Eltern: Auf einen feinsinnigen Vater, der aber ohne seine Ehefrau verloren ist und bereits beim Bedienen des Toasters verzweifelt und auf eine herrische Mutter, die mit ihrer Dominanz Angst und Schrecken verbreitet, den Laden aber am Laufen hält.
Beide sind sparsam, altmodisch und paranoid. Mit Anfang 90 geht es bei ihnen gesundheitlich bergab: Zunächst körperlich, dann auch geistig. Aber Fremde im Haus? Nein danke! Perfekt ist die Pflegehölle für die einzige Tochter, die sich elf Jahre lang dem Haushalt ihrer symbiotisch lebenden Eltern ferngehalten hat.
Mit viel Gefühl geht Roz Chast all dem nach: Wie konnte es so weit kommen? Wie der Angst vor Kontrollverlust begegnen? Wer kann helfen und wie bekommt man die Eltern dazu, Hilfe anzunehmen? Und wie steht es um sie, Roz, selbst? Selbstzerfleischend gesteht sie ihre Wut und Hilflosigkeit ein, ihre Fluchtversuche und Verweigerung. Sie beschreibt ihre Kindheit und Jugend, verschweigt auch die emotionale Kälte zu den Eltern (vor allem zu ihrer Mutter) nicht, die im Angesicht des Siechtums eine neue Qualität erhält.
Muss man Menschen, die einen groß gezogen haben, lieben und pflegen? Wo liegen die eigenen Grenzen? Um all das geht es hier. Und genau deshalb ist dieses Buch so großartig.
Mehr als ein Porträt ihrer Eltern
Denn diese Graphic Novel ist mehr als ein Porträt ihrer Eltern, es ist zugleich auch eine Abrechnung darüber, wie die Gesellschaft mit alten Menschen umgeht, die nicht länger als fitte Freizeitsenioren die Lüge vom vitalen Lebensende aufrechterhalten.
Roz Chast hält uns den Spiegel vor. Schön ist das nicht. Dass ihr Buch dennoch lustig ist, liegt an der großen Portion Selbstironie, mit der sie in der Tradition eines Woody Allen auf die Welt mit all ihren Neurosen und Psychosen blickt – die eigenen und die der anderen. Dazu kommt noch die Machart des Buches: die schrägen Comics, die alten und aktuellen Fotos, die handgeschriebenen Texte und die Gedichte der Mutter – all das verwebt sich hier zu einem Meisterstück.

Roz Chast: "Können wir nicht über was anderes reden? Meine Eltern und ich" 
Marcus Gärtner (Übersetzer)
Rowohlt Verlag, Reinbek 2015
240 Seiten, 19,95 Euro
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