Ruanda

"Keine Lehren aus dem Völkermord gezogen"

Sarah Brockmaier im Gespräch mit Hanns Ostermann |
800.000 Menschen starben vor 20 Jahren beim Völkermord in Ruanda – und die internationale Gemeinschaft sah tatenlos zu. Auch heute noch schaue Deutschland bei Verbrechen in Afrika lieber weg, sagt Sarah Brockmeier von der Menschenrechtsorganisation Genocide Alert.
Hanns Ostermann: Weltweit wird in diesen Tagen an den Völkermord von Ruanda erinnert, auch bei uns heute im Bundestag. Vor 20 Jahren brach der Bürgerkrieg in diesem zentralafrikanischen Staat aus. Mehr als 800.000 Menschen wurden innerhalb weniger Wochen brutal und systematisch umgebracht - und die Welt sah tatenlos zu. Und was macht die internationale Staatengemeinschaft heute? Haben wir aus den Ereignissen die entsprechenden Konsequenzen gezogen? Darüber habe ich mit Sarah Brockmeier gesprochen. Sie ist stellvertretende Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Genocide Alert. Treten wir nicht auf der Stelle, wenn man allein an den Bürgerkrieg in Syrien denkt?
Sarah Brockmeier: Ich würde sagen, die Situation der Menschen in Syrien ist wirklich unsagbar schrecklich und es sind dort in den letzten drei Jahren mehr als 100.000 Menschen ums Leben gekommen, andererseits: In Syrien bestehen sehr viele geopolitische und strategische Interessen an der Welt. Es ist schwierig, da konkrete Politikempfehlungen an Deutschland zu geben, außer: Deutschland muss mehr humanitäre Hilfe geben und deutlich mehr Flüchtlinge aufnehmen. Andererseits – und das ist wichtig – ist Syrien nicht unbedingt vergleichbar mit der Situation Ruanda damals. Es gibt andere Beispiele wie zum Beispiel die Zentralafrikanische Republik heute, wo deutlich weniger geopolitische Interessen auf dem Spiel stehen und wo es eher darum geht, politischen Willen herzustellen, dass Deutschland, die Vereinten Nationen und die EU-Mission dort ausreichend unterstützt.
Eine andere Sache, die mir in Bezug auf Ihre Frage in Syrien sehr wichtig ist: Es ist wichtig, über Syrien zu sprechen, aber andererseits gibt es eine Tendenz dazu in den Medien - wie jetzt bei Ihnen gerade - oder der Öffentlichkeit und damit auch leider in der Politik, immer erst dann über eine Krise und Gewalttaten zu sprechen, wenn sie bereits eskaliert ist. Man bräuchte aber vor allem auch dann öffentlichen Druck und politische Aufmerksamkeit, wenn die Gewalt noch nicht ausgebrochen ist und wenn es erste Anzeichen dafür gibt.
"Konkrete Anzeichen, die nicht weitergeleitet wurden"
Ostermann: Ganz sicher. Wir haben in Bezug auf Ruanda versagt, meinte der frühere UN-Generalsekretär Kofi Annan. Erst sehr spät intervenierte Frankreich 1994 und richtete humanitäre Zonen ein. Warum versagte damals das internationale Krisenmanagement?
Brockmeier: Meiner Meinung nach war das ein Problem des politischen Willens. Es gab damals einige Monate vor dem Völkermord in Ruanda die Situation in Somalia, wo amerikanische Soldaten ums Leben gekommen sind im Rahmen einer Peacekeeping-Mission, und gerade in den USA aber auch in anderen westlichen Staaten stand nicht der politische Wille, die UN-Mission vor Ort ausreichend auszustatten, um dem Völkermord Einhalt zu gebieten. Es ist aber auch ein Versagen, nicht nur, was ... Es wird jetzt in den nächsten Tagen auch von den deutschen Politikern immer wieder der militärische Aspekt erwähnt werden, dass ... Ruanda war aber auch ein Versagen der Frühwarnung, auch in Deutschland. Es gab ganz konkrete Anzeichen, die auch von deutschen Vertretern vor Ort wahrgenommen worden sind, dass es zu einem Völkermord kommen könnte, die teilweise aber nicht weitergeleitet wurden beziehungsweise wo auch die deutsche Politik nicht drauf reagiert hat.
Ostermann: Welche Rolle spielte denn damals Deutschland, spielte die Regierung Kohl?
Brockmeier: Ruanda war eine ehemalige Kolonialmacht Deutschlands, die ... Anfang der 90er-Jahre war Deutschland einer der wichtigsten Geldgeber für Ruanda, 1993 sogar der wichtigste Geldgeber. Politisch hat sich Deutschland aber sehr zurückgehalten und hat gesagt, wir machen Afrikapolitik als EU-Politik, und hat deswegen sich hauptsächlich hinter Frankreich gestellt, was eine sehr negative Rolle in Ruanda gespielt hat. Leider ist das heute immer noch der Fall, dass Deutschland zu oft sich politisch zurückhält und politische Vermittlung ablehnt, die zu einer Lösung der Lage beitragen könnte.
Ostermann: Jetzt gibt es inzwischen das Konzept der Schutzverantwortung, das die Vereinten Nationen 2005 verabschiedeten. Danach hat jeder Staat die Verantwortung, seine Bürgerinnen und Bürger vor Völkermord und ethnischen Säuberungen, vor Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen. Ich führe noch mal Syrien an, ich denke aber auch an den Sudan. Wenn man diese Beispiele sich vor Augen hält, dann hat sich doch eigentlich seit 2005 wenig getan, oder gibt es aus Ihrer Sicht auch positive Beispiele?
Brockmeier: Ich denke, es gibt positive Beispiele, sogar Syrien kann man in der Hinsicht sehen: Es ist nicht wie in Ruanda der Fall, dass überhaupt noch nicht mal groß und breit diskutiert wird, ob man da was tun sollte. Heute ist die Frage immer eher, was man tun sollte, wie eingegriffen werden sollte, was mögliche Optionen sind. Ich glaube, da ist auf jeden Fall ein Fortschritt zu sehen. Im Südsudan heutzutage oder in der Zentralafrikanischen Republik hat man einen Generalsekretär der Vereinten Nationen, der lautstark fordert - im Gegensatz zu Ruanda damals - dass die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen mehr tun sollten, der eindeutig sagt, dass es mehr politischen Willen geben sollte von den Mitgliedsstaaten, einzugreifen.
Was sich nicht geändert hat leider, finde ich, gerade in Deutschland, ist die Bereitschaft Deutschlands, die Vereinten Nationen mehr zu unterstützen, sieht man auch gerade wieder in der Zentralafrikanischen Republik. Ich würde sagen, wenn Herr Müller sich hinstellt in Bangui - der Entwicklungsminister Müller - und sagt, hier werden keine Soldaten gebraucht, obwohl die Vereinten Nationen vor Ort händeringend darum bitten, dass Mitgliedsstaaten Soldaten zur Verfügung stellen, und obwohl tausende Menschen in den letzten Monaten dort ums Leben gekommen sind, kann man sagen, dass seine Aussage nicht nur faktisch falsch ist, sondern auch geradezu verantwortungslos. Und das zeigt, dass er keine Lehren aus dem Völkermord in Ruanda gezogen hat.
"Eine Aktenfreigabe wäre sehr sinnvoll"
Ostermann: Zu den Lehren von Ruanda gehört möglicherweise auch, sich die Akten des Außenministeriums anzuschauen. Die Grünen werden heute darauf hinweisen, dass man nicht erst 30 Jahre danach das Archiv öffnen darf, weil es dann viel zu spät ist. Würden Sie eigentlich diese Vorschläge unterstützen?
Brockmeier: Die würde ich sehr unterstützen. Ich habe persönlich in den letzten Monaten viel zu dem Thema recherchiert. Es gibt einen Evaluierungsbericht des BMZ (Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung; Anmerkung der Redaktion) aus dem Jahr 1999, in dem wichtige Informationen stehen, bereits auch noch nicht öffentlich verfügbar ist. Es gäbe sehr interessante Informationen, die das Auswärtige Amt in den Akten haben sollte, in Bezug auf welche Inhalte die Botschaft damals, welche Warnzeichen über Waffenlieferungen, über Listen, die im Land kursierten von damals Kigali, der Hauptstadt Ruandas, nach Bonn geschickt hat und wie die Bundesregierung darauf reagiert hat. Ich glaube, dass es eine Aktenfreigabe und eine gründliche Aufarbeitung, so was wie eine Historikerkommission, welche die Grünen auch vorschlagen, sehr sinnvoll wäre, um aus dem Völkermord in Ruanda zu lernen.
Ostermann: Frau Brockmeier, Sie sind relativ jung, ohne Ihr Alter verraten zu wollen. Warum lässt Sie dieses Thema Völkermord nicht los?
Brockmeier: Ich habe als Jugendliche schon früh angefangen, über den Holocaust zu lesen, habe mir damals immer schon die Frage gestellt, die sich ja auch viele, glaube ich, stellen: Wieso wurde das damals nicht verhindert, wie kann so was eigentlich geschehen? Und ich habe dann während meines Studiums der internationalen Politik mich auch mit dem Völkermord in Ruanda beschäftigt, mit den ethnischen Säuberungen in Bosnien, mit Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Darfur, und da kam immer wieder diese gleiche Frage auf: Warum tun wir Deutschen eigentlich nicht mehr, um solche Verbrechen zu verhindern?
Und persönlich glaube ich, dass es wichtig ist, durch Zivilgesellschaft, nicht nur Experten und Forschungsinstitute, sondern durch normale Bürger und Wähler politischen Druck aufzubauen, dass solche Verbrechen verhindert werden. Ich glaube, das ist gerade eine Aufgabe, die wir Deutschen haben mit unserer Geschichte.
Ostermann: Sarah Brockmeier war das, die stellvertretende Vorsitzende der Menschenrechtsorganisation Genocide Alert. Danke Ihnen für das Gespräch!
Brockmeier: Danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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