Im Podcast der Weltzeit hören Sie auch, wie unsere Korrespondentin Linda Staude durch Ruanda reist, um Menschen zu treffen, die am Neuanfang arbeiten. Manchmal leben Täter und Opfer heute Tür an Tür. Wie können "Versöhnungsdörfer" funktionieren? Und wie setzt die "Generation 25" die Verbrechen und das Leid ihrer Eltern in einem Theaterprojekt um?
Die Geschichten der Toten erzählen
27:03 Minuten
Nur acht Stunden brauchten Hutu-Milizen am 21. April 1994, um 50.000 Tutsi regelrecht abzuschlachten – eines von vielen Massakern des Völkermords in Ruanda. Mit deutscher Unterstützung sollen die Opfer aus den Massengräbern jetzt endlich identifiziert werden.
Es riecht noch immer nach Verwesung auf dem weitläufigen Gelände mit den Backsteinhäusern. Auch 25 Jahre danach. Die Völkermordgedenkstätte Murambi liegt im Südwesten Ruandas hoch oben auf einem Hügel. Rund herum erstrecken sich weitere Hügel, die meisten bepflanzt mit Mais und Bohnen. Ein paar Lehmhütten klammern sich an den Hang. Die Gegend wirkt friedlich. Stanley Mugabarigira ist der Gedenkstättenführer von Murambi:
"Das ist die Völkermord-Gedenkstätte von Murambi", erklärt er. "Das Gebäude war zur Zeit des Genozids gerade noch im Bau. Es sollte eine technische Sekundarschule werden, ein Internat. Doch stattdessen wurde es ein Schlachthaus – rund 50.000 Menschen von der Ethnie der Tutsi wurden hier ermordet. Sie waren von lokalen Politikern und Militärs zusammen getrieben worden."
Gedenkstättenführer Mugabarigira steht auf der Treppe des Hauptgebäudes, begrüßt Besucher. In diesen Tagen rund um den 25. Jahrestag sind es besonders viele. Fast täglich kommen Ruander, aber auch ausländische Touristen nach Murambi. Mugabarigira erzählt ihnen die Geschichte des Ortes:
"Die lokalen Politiker und Militärs haben die Tutsi hierher gebracht und ihnen Schutz versprochen. Aber das war ein Trick. Sie wollten alle am selben Ort umbringen. Sie haben diesen Ort strategisch ausgewählt. Dieser Hügel hier ist umringt von anderen Hügeln, die alle höher sind. Es gab also keine Chance für die Opfer, ungesehen zu flüchten. Die lokalen Führer haben dann die Wasserversorgung abgeschnitten, um die Opfer zu erschöpfen. Am 21. April morgens um drei Uhr bis zur Mittagszeit wurden die Menschen letztlich getötet. Von 50.000 Menschen überlebten nur 34."
Hinter ihm, im großen Speisesaal der Schule, ist ein Museum eingerichtet. Fotos hängen an der Wand: von den Opfern, von den Bauarbeiten an der Schule, von lokalen Politikern und Militäroffizieren, die das Massaker geplant und befohlen haben.
In acht Stunden 50.000 Menschen getötet
"Das Massaker begann früh am Morgen gegen drei Uhr und dauerte bis Mittag. Man muss sich das bewusst machen, wie viele Menschen nötig sind, um in nur acht Stunden 50.000 Menschen zu töten und wie viele Waffen nötig sind. Am 22. April haben sie dann Schaufelbagger hierher gebracht, um Massengräber auszuheben und die Leichen darin zu verscharren. Sie wollten der internationalen Gemeinschaft weismachen, dass hier nichts geschehen sei."
Mugabarigira spielt aus einem alten Radiogerät eine Ansprache vor, die Ruandas führender Historiker Leon Mugesera 1990 im Radio gehalten hatte. Eine Hass-Rede gegen die Minderheit der Tutsi, voll von der Ideologie und Propaganda, die den Hutu über Jahrzehnte eingebläut wurde: die Beschimpfung und Entmenschlichung der Tutsi als Kakerlaken und Ungeziefer. Die Nachrede, sie seien eingewandert und gar keine richtigen Ruander. Systematisch gesäter Hass – und ein wesentlicher Grund, warum es im April 1994 überall landesweit zu Massakern kam, in welchen Menschen ihre Nachbarn mit dem üblichen Gartengerät, der Machete, umbrachten.
Gedenkstätte, Tatort und Lagerstätte für Mumien
Jenseits des Hauptgebäudes reihen sich Baracken aus Backstein: Die ehemaligen Klassenzimmer und Schlafsäle sind heute Teil eines Dokumentationszentrums. Für die Ruander ist Murambi nicht nur eine Gedenkstätte, sondern ein Tatort – alle Gegenstände, die vor Ort gefunden wurden, werden hier von Ruandas Behörden archiviert – als Beweismittel wie bei einem kriminalistischen Verfahren, als Nachlass für die zukünftigen Generationen. Immerhin: Es ist das größte Verbrechen der jüngeren afrikanischen Geschichte. Je nach Schätzung über eine Million Menschen, mehrheitlich von der Ethnie der Tutsi, wurden in nur 100 Tagen ermordet. Um dieses Massenverbrechen für immer nachweisen zu können, wurden in Murambi auch die Leichen aus den Massengräbern exhumiert und aufgebahrt.
"Man muss sich nun vorbereiten und stark sein für einen sehr schrecklichen Anblick. Wir haben die mumifizierten Leichen so aufbewahrt, wie sie da lagen. Ich möchte es nur sagen, bevor wir dort ankommen."
Mugabarigara geht auf ein längliches Gebäude zu. Die Türen sind ausgehängt. Der süßlich-faulige Geruch, der über dem ganzen Gelände liegt, wird stärker, nimmt einem fast den Atem.
"Die Körper wurden durch Kalk mumifiziert. Sie haben noch immer dieselbe Körperhaltung wie die, in der sie damals umgebracht und verscharrt wurden. An der Position ihrer Beine kann man hier zum Beispiel erkennen, dass die Frau vergewaltigt wurde, bevor sie mit der Machete ermordet wurde. Dieser Mann hier, der den Arm hochstreckt, der wollte sich sicher vor den Machetenhieben schützen. Doch es hat nichts genützt. Wir haben hier über eintausend Mumien wie diese. Sie sind eindeutige Beweismittel für den Völkermord und was den Tutsi 1994 angetan wurde."
Deutsche Forensiker helfen bei Konservierung von Leichen
Doch die Mumien zerfallen stetig. Das feuchte Klima, Insekten, Staub und Licht zersetzen sie. In Sachen Konservierung hat Ruanda nun Deutschland um Amtshilfe gebeten. Gemeinsam mit dem Rechtsmedizinischen Institut in Hamburg Eppendorf und dem Niedersächsischen Landesamt für Denkmalpflege sollen die Mumien jetzt konserviert werden, so Jean Damascene Gasanabo von Ruandas Völkermord-Kommission, die für die Gedenkstätten zuständig ist:
"In Murambi sind in den Klassenzimmern rund 800 Leichen aufgebahrt. Doch die Frage ist, was wir nun damit machen. Wir müssen sie chemisch behandeln. Die Idee ist: Wir werden 20 Leichen in Glassärgen präservieren, darunter neun Kinder. Sie sollen darin fünfzig, ein- oder gar zweihundert Jahre liegen. Doch wie machen wir das technisch? Dabei helfen uns die Deutschen: Sie haben das Wissen und bilden unsere Leute aus. Was mit den anderen Mumien geschieht, darüber diskutieren wir gerade mit den Überlebenden."
Im Rahmen dieser Debatte kam auch die Frage nach einer möglichen genetischen DNA-Analyse der Mumien auf. Damit Verwandte ihre eigene DNA mit Proben der Leichen abgleichen können. Denn die meisten Ruander wissen nicht, wo ihre Angehörigen bestattet sind. Jean Damascene Gasanabo:
"Unsere Priorität ist im Moment die Konservierung der Leichen. Wir haben so viele Beweisgegenstände: Wir haben Schriftdokumente auf Papier, Kleidung, Schuhe, Tatwaffen. All das müssen wir erst einmal gut haltbar machen. Dann, in der Zukunft, spielen wir mit der Überlegung der DNA-Analyse. Doch dafür brauchen wir finanzielle Mittel und auch das Wissen."
Das forensische Labor in Ruandas Hauptstadt Kigali wurde erst im vergangenen Jahr eingeweiht. Noch immer ist es nicht fertig eingerichtet. 75 Wissenschaftler und Polizisten arbeiten hier, zehn davon wurden in Deutschland ausgebildet. Auch in DNA-Analysen.
Rechtsmediziner Higiro Valens zieht einen sterilen Kittel an. Im neu eingerichteten DNA-Labor ist dies Vorschrift. Die Forensiker sollen hier eine nationale DNA-Datenbank aufbauen.
"Momentan machen wir nur DNA-Analysen von Kriminellen", sagt Higiro Valens. "Doch wir richten gerade in unserem Institut eine neue Abteilung ein, die dann für die DNA-Analysen der Leichen aus den Massengräbern zuständig ist. Wir arbeiten derzeit an einem Gesetz für eine DNA-Datenbank, in der wir diese Daten speichern. Darin wird auch stehen, wie wir die DNA schützen und die Privatrechte wahren – das ist wichtig."
Auch heute werden noch Massengräber entdeckt
Noch immer werden in Ruanda jedes Jahr neue Massengräber entdeckt, auch 25 Jahre später noch. Für die Überlebenden von 1994 sei eine die DNA-Analyse der Leichen wichtig, um herauszufinden, wo die Angehörigen beerdigt sind, sagt Gedenkstättenführer Mugabarigara.
"Wenn in unserer Kultur jemand stirbt, dann beerdigen wir diese Person. Doch nach dem Völkermord hatten wir keine Expertise, wie man mit Massengräbern umgeht. Dieses Wissen haben wir uns erst jetzt angeeignet. Doch es ist wichtig zu wissen, wo sie bestattet sind. Auch ich habe meine Eltern nach dem Völkermord beerdigt und habe sie 2011 exhumieren und sie in der Gedenkstätte beisetzen lassen. Das war wichtig zu wissen, dass sie dort beerdigt sind, wo ich hingehen kann und an sie denken kann. In einigen Jahren wird mein Kind fragen, wo seine Großeltern bestattet sind. Wenn es alt genug ist, kann ich meinem Sohn erzählen, was passiert ist."