Ruanda und die Folgen - 20 Jahre nach dem Genozid

Mein Nachbar, der Mörder

Von Jesko Johannsen |
Heute zeigt sich Ruanda gerne vereint und versöhnt. In der Hauptstadt Kigali glitzern Wolkenkratzer und Hotels, zeugen sauber gepflegte Straßen und Grünanlagen vom Wohlstand des Landes. Hutu und Tutsi blicken in eine gemeinsame Zukunft, ohne dass die Schuldfrage angezweifelt wird. Unter der glänzenden Oberfläche gibt es aber weiterhin Spaltung, Rassismus und Angst.
Monique und Consolée sind Nachbarinnen. Gemeinsam kümmern sie sich um die Soja-Ernte. Sie unterhalten sich und lachen miteinander. Als sei alles ganz normal. Ist es aber nicht. Monique ist Tutsi. Ihre Eltern wurden im Genozid getötet. Consolée ist Hutu. Ihr Mann hat das Haus von Moniques Eltern während des Genozid 1994 geplündert. Er ist bis heute im Gefängnis.
Wenn Monique aus ihrem Haus tritt, sieht sie das von Consolée. Lange Zeit war das für sie unerträglich:
"Wenn ich raus gegangen bin und ihr Haus auf dem Hügel gesehen habe, dachte ich nur an die Vergangenheit. Aber langsam hat sie den ersten Schritt für eine Entschuldigung gemacht - und ich konnte sie akzeptieren. Vorher konnten wir nicht miteinander reden oder uns treffen. Ich war wütend."
Vergeben, nicht vergessen
Für Consolée war die Entschuldigung keine Selbstverständlichkeit. Sie hat gekämpft, ehe sie zum Nachbarhaus gehen und um Verzeihung bitten konnte.
Consolée: "Es braucht die Unterstützung Gottes, weil ich mich sehr lange gefragt habe, wie ich einem Opfer in einer dermaßen schweren Lage begegnen kann. Als ich das erste Mal gekommen bin, saß sie vor dem Haus und wusch ihre Kleider. Sie hat mir einen Stuhl gebracht. Auch wenn es uns viel Zeit gekostet hat, hat sie mich willkommen und wir haben zusammen gesessen und geredet. Jetzt haben wir kein Problem mehr."
Monique: "Das Leben war nicht einfach. Aber dann kam die Frau, die mir seelische Schmerzen zugefügt hat und bat um Vergebung. Ich habe die Entschuldigung angenommen, ohne zu wissen, was das für die Zukunft bedeuten würde. Später kam Consolée zurück und erzählte, dass ihre Kuh schwanger ist. Mit dem neugeborenen Kalb wollte sie mir nun zurückgeben, was ihr Mann genommen hatte."
Die Kuh ist braun-weiß gescheckt und lebt jetzt im Stall neben Moniques Haus. Noch ist das Tier recht jung. Aber Monique ist glücklich und konnte vergeben:
"Eine Kuh zu haben ist für uns sehr wichtig. In unserer Kultur bringt eine Kuh sehr viele Vorteile. Jede Familie muss eine Kuh haben. Ohne Kuh haben wir keine Milch und keinen Dünger für die Felder. Eine Kuh ist für uns ein Zeichen für Wohlstand."
Vergeben und vergessen sind nicht dasselbe. Ruanda 20 Jahre nach dem Genozid zeigt, selbst nach einer Versöhnung sind die Wunden nicht automatisch geheilt. Die politische Führung würde es aber gerne genau so haben: Sie fährt einen aktiven Versöhnungskurs. In der Öffentlichkeit wird nur nach vorne geblickt: Versöhnung und Zukunft sind die politischen Themen Nummer eins – der Blick zurück zu den Ursachen des Konflikts ist nicht erwünscht. Hutu und Tutsi gibt es nicht mehr. Alle sind Ruander. Wer etwas anderes sagt, dem droht Gefängnis. Doch diese Einigkeit ist keine Lebensrealität.
Sonntagsmesse in Kiziguro in Ostruanda. Die Kirche, ein einfacher Backsteinbau, ist groß wie drei Turnhallen und mit Gläubigen voll besetzt. Es ist eine Messe wie jeden Sonntag.
Vor der Kirche stehen Aloys, Grace und Angelique. Sie sind nicht zur Messe gekommen. Sie sind heute an den Ort zurückgekehrt, den sie mit Schrecken, Vertreibung und Tod verbinden.
Schrecken, Vertreibung und Tod
In der Kirche deutet nichts darauf hin, was sich hier am 11. April 1994 ereignet hat. Hunderte Menschen hatten sich während des Genozids in diese Kirche geflüchtet. Dann kamen die sogenannten Interahamwe-Milizen – trainierte Bürgerwehr-Einheiten aus bewaffneten Hutus bestehend. Brutal, ausgerüstet mit spartanischen Waffen, meistens Macheten. Angelique erinnert sich an diesen Tag:
"Die Frauen waren in der Kirche, unsere Männer waren vor der Kirche. Als die Interahamwe-Milizen kam, haben sie auch uns aus der Kirche gejagt. Dann haben sie angefangen zu töten, erst die Männer, dann die jungen Frauen und am Ende die Älteren."
Damals war die Zisterne in der Nähe der Kirche fast bis zum Rand mit Leichen gefüllt.
Angelique und Grace haben überlebt. Eine Gruppe von Milizionären hat sie mitgenommen und immer wieder missbraucht. Angelique wurde bis nach Tansania verschleppt und erst Monate später freigelassen. Von ihren Erlebnissen will sie lieber nicht sprechen. Als die Milizen kamen, um sie mitzunehmen, hat sie nicht ans Überleben gedacht:
"Ich dachte, ich würde sterben. Wenn man Menschen kommen sieht, die Macheten und andere Waffen haben, sieht man sich automatisch sterben."
Angelique hat ihre Eltern, Geschwister und viele Freunde beim Massaker vor der Kirche verloren. Aloys hat 32 Angehörige im Genozid verloren. Darunter seine Mutter und seine Geschwister – ebenfalls in der Kirche von Kiziguro:
"Als die Mörder das erste Mal kamen, waren meine Mutter, mein Vater und die Kinder zu Hause. Es war um 9 Uhr morgens und sie haben meinen Vater getötet. Der Rest der Familie konnte fliehen. Sie flohen Richtung Kirche und kamen dort am 11. April an. Davor haben sie sich in der Wildnis versteckt. Es ist sehr hart. Man muss sich vorstellen ohne Eltern, ohne Bruder und die anderen Familienangerhörigen zu leben. Es gibt so viele Waisen und Witwen. Es ist nicht leicht."
Dieter Magsam ist Anwalt in Hamburg. Das Massaker von Kiziguro wurde vor dem Oberlandesgericht Frankfurt verhandelt. Magsam hat Angelique, Grace und Aloys als Anwalt der Nebenklage vertreten. Angeklagt war der ehemalige Bürgermeister von Kiziguro – Onesphore Rwabukombe. Er hat zwar nicht selber getötet, aber das Morden befohlen und angetrieben – entschied das Gericht.
Nach dem Genozid kam Rwabukombe als Flüchtling nach Deutschland, wo er schließlich angeklagt wurde. Nach drei Jahren Prozess wurde er Mitte Februar wegen Beihilfe zum Völkermord zu 14 Jahren Haft verurteilt.
Versöhnung als Generationenaufgabe
Für Aloys und Angelique sind Vergeben, Vergessen und Versöhnen ganz unterschiedliche Dinge:
"Es wird kommen, es wird einige Zeit dauern, denn es ist sehr schwer zu verstehen. Wir haben eine Menge Herausforderung. Aber es wird kommen. Wir wollen, dass Ruanda ein friedliches Land ist, denn wir haben die Zeit des Sterbens hinter uns."
"Vergeben? Ja, ich kann vergeben. Aber die, die solche Verbrechen begangen haben, müssen verurteilt werden. Denn ich muss mein Herz befreien, um nicht an negative Dinge denken zu müssen. Ich kann nicht einfach vergeben, ohne dass die Täter verurteilt werden."
Versöhnung ist in Ruanda eine Aufgabe von Generationen. Auch weil bis heute ein offener Umgang mit der Geschichte des Landes schwierig oder nicht möglich ist – gerade für die junge Generation an Ruandas Schulen. Das möchte die britische NGO Aegis-Trust mit dem Rwanda Peace Education Program ändern. Lehrer bekommen mehrtägige Trainings zum Thema Genozid. Nepo Ruhumuriza ist der Programmkoordinator:
"Wir bringen ihnen bei, wie sie diesen Teil der Geschichte unterrichten können. Denn der Genozid ist ein sehr sensibles Thema in der Gesellschaft, besonders für Schüler. Manchmal sagen die Lehrer, dass sie nicht genügend Selbstvertrauen haben, um über das sensible Thema Genozid gegen die Tutsi zu sprechen. Wir helfen ihnen, eine Unterrichtsmethode zu entwickeln."
Knapp 40 Lehrer sitzen in einem Raum und schauen einen kurzen Zeichentrickfilm. Er ist Teil des Trainingsprogramms und zeigt, dass Gewalt nicht plötzlich auftritt. Emmanuell Nshimyimana ist der Trainer:
"In diesem Kurs erarbeiten wir, dass Gewalt und besonders ein Genozid ein Prozess ist. Man kann nicht eine Gruppe auf eine andere hetzen, ohne sie vorzubereiten, zu motivieren oder ihnen eine Ideologie zu geben."
Workshops und Schulungen
In Diskussion und Gruppenarbeit sollen die Lehrer verstehen, wie es 1994 zum Genozid kommen konnte. Das Ziel: Die Entwicklung von Gewalt zu verstehen, um so im Unterricht einen offeneren Umgang mit den Geschehnissen von 1994 zu erlangen. Bisher wussten Lehrer wie Christine Ingabire und William Niyigabe nicht, wie sie mit diesem Thema umgehen sollen:
"Der Workshop hilft mir, die Schüler über die Geschichte Ruandas und die Geschehnisse von 1994 zu unterrichten, sodass es nicht wieder zu einem Genozid in Ruanda kommen kann."
Projekte wie diese, sollen die Versöhnung erleichtern. Denn geht es nach dem Veranstalter Aegis Trust, sprechen die Kinder mehr mit ihren Eltern über die Taten während des Genozids und fördern so das friedliche Miteinander. Denn noch sprechen Eltern ungerne mit ihren Kindern über 1994, berichtet Projektkoordinator Nepo:
"Manche Schüler erzählen uns, dass ihre Eltern sagen, sie sollen in der Schule nach der Geschichte Ruandas fragen. Und wenn ein Elternteil im Genozid mitgemacht hat -glauben Sie, dass es seinen Kindern dann die Wahrheit erzählt? Nein."
Dieser mühselige Umgang mit der Wahrheit sorgt bis heute für unterschwelligen und auch offenen Rassismus gegen Tutsi in Ruanda. Verwandte von Genozidopfern werden immer noch getötet. Oft von den Tätern von damals. Manchmal auf offener Straße, manchmal auf Friedhöfen am Grab der Verwandtschaft. Andere werden verbal bedroht oder auch physisch angegriffen – so wie Jean.
Im April beginnt in Ruanda die Regenzeit. Mit dem Regen kommen bei vielen Menschen die Erinnerungen zurück. Sie sind bis heute traumatisiert. In Ruanda gibt es zahllose psychische Erkrankungen. Auch Jean erinnert sich in diesen Tagen an seine Flucht 1994:
"Ich denke daran, wie ich mich während des Genozids im April 1994 im Wald hinter Büschen versteckt habe. Die Überlebenden waren dem Regen ausgesetzt, während sie geflohen sind. Wir wussten nicht, wie wir uns vor dem Regen schützen sollten."
Kein normaler Alltag möglich
Jean besitzt heute ein größeres Anwesen mit mehreren Häusern in Kigali. Dort lebt er mit seiner Familie – aber keinen normalen Alltag: Der Genozid belastet die Familie bis heute. Und auch Jean redet nicht mit seinen Kindern, weder über die Vergangenheit noch über die Gegenwart. Bevor er erzählt, will er, dass alle den Hof verlassen:
"Hier haben überall Häuser gestanden. Aber die wurden zerstört. Die Gebäude, die jetzt hier stehen, habe ich nach dem Genozid gebaut. Hier auf diesem Gelände wurden mindestens 17 Familienangehörige von mir getötet. Sechs Kinder, meine Frau und meine Mutter."
Auch 20 Jahre nach dem Genozid gibt es für Jean keine Versöhnung. Im Gegenteil: Bis vor zwei Jahren wurde sein Grundstück immer wieder mit Steinen beworfen. Die Täter heute sind die Verwandten der Täter von damals, die Tür an Tür mit Jean wohnen. Die Täter wurden inzwischen von traditionellen Dorfgerichten – Gacaca genannt - zu Reparationszahlungen aufgefordert. Doch einige sind selber zu arm, um zu zahlen. Jean geht es aber nicht nur um Geld:
"In den traditionellen Gacaca-Gerichten hat niemand der Täter mich persönlich um Vergebung gebeten. Und das macht mir Sorgen. Obwohl die Regierung versucht, die Menschen zur Versöhnung zu bewegen, macht es mir Sorgen, dass mich niemand um Vergebung bittet. Auch wenn es gut ist, dass die Regierung die Menschen auffordert, sich wieder zu versöhnen. Das reicht nicht. Diese Menschen müssen bestraft werden. Sie müssen für das bezahlen, was sie zerstört haben."
Consolée und Monique sind den Weg der Versöhnung erfolgreich gegangen. Auch ohne Gerichtsurteil hat Consolée verstanden, was es für ein friedliches Miteinander braucht. Doch auch für sie steht noch ein großer Schritt aus: Wenn Consolées Mann aus dem Gefängnis entlassen wird. Seine Frau sagt, er sei bereit, um Vergebung zu bitten:
"Er wird um Vergebung fragen. Denn als ich ihm im Gefängnis erzählt habe, dass ich Monique die Kuh geschenkt habe, hat er gesagt, dass ich etwas Gutes getan habe."
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