Ruangrupa zu Documenta-Skandal
Verpasste Chancen: Reza Afisina vom Documenta-Kuratorenkollektiv Ruangrupa hätte sich mehr Dialog gewünscht. Der Kunsthistoriker Ingo Arend sieht Lücken in der Debatte. © imago / Peter Hartenfelser
Blinde Flecken der Debatte
06:48 Minuten
Das Kuratorenkollektiv der Documenta beklagt, im Streit um Antisemitismus zu wenig gehört worden zu sein. Der Kunsthistoriker Ingo Arend hält das für larmoyant. Tatsächlich aber seien wichtige postkoloniale Fragen in der Debatte außen vor geblieben.
In einer Reihe von Interviews hat das Kuratorenteam der Documenta 15, das indonesische Künstlerkollektiv Ruangrupa, zum Antisemitismus-Skandal um die Ausstellung Stellung genommen. Im Gespräch mit dem Berliner "Tagesspiegel" erheben zwei Mitglieder des Kollektivs den Vorwurf, ihre Sichtweise habe in der Debatte bisher zu wenig Beachtung gefunden.
"Keiner hört richtig hin"
"Hier hört keiner richtig hin, obwohl es uns gerade um den Dialog geht", so Reza Afisina von Ruangrupa. "Es gibt gar nicht den Wunsch, einander zu verstehen."
Der Kunsthistoriker Ingo Arend erkennt in der Kommunikationsoffensive des Kollektivs, kurz vor dem Ende der Documenta am 25. September, "eine Mischung aus mea culpa, Naivität und Larmoyanz." Das Kuratorenteam räume zwar Fehler ein und gestehe zu, dass es "bestimmte Werke stärker hätte kontextualisieren sollen". Wenn Ruangrupa jedoch behaupte, unterschätzt zu haben, dass die Documenta in Deutschland "fast eine Staatsangelegenheit" sei, zeuge das von einer Naivität, die er der Gruppe nicht abnehme.
Reflexartige Abwehr
Den Vorwurf, man habe ihnen nicht richtig zugehört, müssten sich die Mitglieder von Ruangrupa umgekehrt selbst gefallen lassen, Arend: "Vielleicht haben sie selbst bei den Antisemitismus-Vorwürfen, die ja schon sehr früh kamen, auch nicht so genau zugehört und das reflexartig abgewehrt, indem sie gesagt haben: Das ist ein rassistischer Pauschalverdacht, der uns hier entgegengebracht wird."
Andererseits weist die gesamte Antisemitismus-Debatte anlässlich der Documenta nach Arends Auffassung einige blinde Flecke auf. Eine verpasste Chance sieht er vor allem darin, dass über die Vorgeschichte antisemitischer Bildmotive im indonesischen Kontext, aktuell in Werken der Gruppe Taring Padi, nicht gesprochen worden sei.
Kolonialgeschichte und Antisemitismus
Das unterdessen abgehängte Banner "People's Justice" von Taring Padi habe, bei aller berechtigten Empörung über die antisemitische Bildsprache, ein Zeitfenster in die Kolonialzeit geöffnet, so Arend. Plötzlich habe die Frage nach der Rolle der westlichen Kolonialmächte und später der europäischen Staaten bei der Unterstützung der Suharto-Diktatur im Raum gestanden.
Doch dieser Zusammenhang sei von der Documenta und von der Medienöffentlichkeit ebenso wenig aufgegriffen worden wie der "Bumerang-Effekt", auf den Kulturwissenschaftler bereits früh im Laufe der Debatte hingewiesen hätten: Mit diesem Begriff beschrieben die Philosophin Hannah Arendt und der afrokaribische Denker Aimé Césaire das komplexe Wechselverhältnis zwischen Antisemitismus und Kolonialismus, erklärt Arend.
Wie eine von den westlichen Kolonialmächten eingeschleppte antisemitische Bildsprache in die oppositionelle Bildsprache der kolonisierten Länder diffundiert sei und nun als "antikoloniales Bild" nach Deutschland zurückkehre, dieser Zusammenhang hätte offensiver aufgearbeitet werden müssen, sagt Arend: "Diese Debatte habe ich vermisst."