Der Kunstszene den Spiegel vorhalten
Die Kunstszene interessiere sich nur noch für das, was in ihrem Kosmos passiere, kritisiert der schwedische Regisseur Ruben Östlund. Das nehme er mit seinem Film "The Square" auf die Schippe. Ebenso den harten Kampf der Künstler um die kurze Aufmerksamkeit ihres Publikums.
Patrick Wellinski: Herr Östlund, wie kamen Sie auf die Idee zu The Square ?
Ruben Östlund: Ich arbeitete gerade an meinem Film "Play" und der basierte auf wahren Begebenheiten. Und es ging darum, dass in meiner Heimatstadt Göteborg sehr junge Jungs andere Jungs ausgeraubt hatten. Und als ich mir die Gerichtsakten anschaute, merkte ich, dass es bei diesem Fall so einen richtigen Zuschauereffekt gegeben hatte und dass niemand Verantwortung übernimmt für Dinge, die im öffentlichen Raum geschehen. Und deswegen habe ich mir mit Freunden gedacht, wir müssen eine Art symbolischen Ort in einem öffentlichen Raum schaffen, um die Leute darauf aufmerksam zu machen, dass sie auch in öffentlichen Räumen Verantwortung zu übernehmen haben. Und so haben wir in einer Fußgängerzone die Autofahrer beispielsweise gebeten, Rücksicht auf die Fußgänger zu nehmen, und wir haben eine Installation gemacht, die nannte sich "The Square", und das war so ein symbolischer Ort, wo wir wollten, dass die Leute auch mal Verantwortung übernehmen.
Wellinski: Der "Square" an sich ist also ein echtes Kunstwerk?
Östlund: Ja, so hat das begonnen. Wir haben verschiedenste Kunstmuseen dazu bewogen, mit uns gemeinsame Projekte zu machen, wo wir eben "The Square", also einen öffentlichen Raum geschaffen haben. Und das gibt es jetzt nach wie vor, es gibt mittlerweile drei, die permanent installiert worden sind, zwei davon in Schweden und einen in Norwegen. Aber es geht mir, wie gesagt, bei diesem Projekt um die Verantwortung, die man in der Gesellschaft hat, einmal um die persönliche Verantwortung, aber auch die Verantwortung, die das Individuum der Gesellschaft gegenüber hat.
Und natürlich verändert sich auch in Skandinavien die Gesellschaft, wie überall, und in Schweden beispielsweise haben wir jetzt dieses Phänomen der sogenannte Gated Communities. Das heißt, es gibt ganze Stadtviertel, die einfach abgeschlossen werden, wo die Leute nur noch für sich leben, Mauern errichtet haben und nur noch innerhalb dieser Mauern für sich Verantwortung übernehmen wollen. Und ich wollte einfach untersuchen: In welcher Gesellschaft leben wir überhaupt?
Die Begebenheit mit dem geklauten Handy
Wellinski: Ihre Hauptfigur Christian lebt ja im Grunde auch in einer Art Gated Community, in einer Filterblase der liberalen Kunstwelt. Eigentlich kann ihn nichts erschüttern, er ist gutaussehend, er ist smart. Und doch wird ihm am Anfang des Films das Handy geklaut. Und diese Tat, dieser Diebstahl, der verändert Christian. Er wird ganz manisch, er versucht, dieses Smartphone wiederzufinden, er ortet es, landet dann in einem sozialen Brennviertel. Was treibt ihn eigentlich an?
Östlund: Ja, diese Begebenheit mit dem geklauten Handy, das war einer Freundin von mir passiert, die auch gleichzeitig die Produzentin meines Films war, den ich davor gedreht hatte, "Höhere Gewalt". Und ihr wurde eben das iPhone geklaut. Und man kann ja bei diesen Apps herausfinden, wo das iPhone ist, und das hat sie eben auch gemacht.
Und irgendwie hat sie dann gemeint, sie würde jetzt das Gesetz in ihrer eigenen Hände nehmen und nicht der Polizei Bescheid geben, und es stellte sich heraus, dass das in einem Vorort von Göteborg war, was jetzt nicht zu einer besonders guten Gegend gehört. Und sie ging dann dahin und machte so eine Art Anschlag und schrieb drauf: Ja, ich weiß, wer mein iPhone geklaut hat, und wenn Sie es nicht innerhalb von 24 Stunden zurückgeben, dann kommen wir wieder! Und das aber hat ihr noch nicht ausgereicht. Sie ist dann praktisch in das Haus gegangen, in dem der Täter wohnte, und hat in jeden einzelnen Briefkasten noch so einen Zettel reingeworfen. Und dann wurde ihr plötzlich klar: Halt, eigentlich beschuldige ich jetzt alle! Und dann wurde ihr plötzlich klar, wie weit sie plötzlich gegangen war.
Interessanterweise hat sie dann ihr iPhone wirklich zurückbekommen und das habe ich als Ausgangspunkt genommen für die Geschichte von Christian, der ja auch manisch ein iPhone versucht wiederzufinden. Bloß, bei uns im Film gibt es ja dann noch einen neuen Dreh.
Wellinski: Sie zeigen ja dieses soziale Brennviertel fast als unheimlichen Ort. Es wirkt alles so fremd für Christian, dabei ist das seine Stadt, es ist sein Land, er kennt sich hier aus! Und dennoch verliert er die Nerven in dieser No-Go-Area. Was macht diesen smarten Mann eigentlich so wahnsinnig?
Östlund: Die Motivation hat auch ein bisschen damit zu tun, wie Männer so ticken. Wenn er dann an seinem Computer sitzt und wirklich so verfolgt, wo sein Handy gelandet ist, und er merkt, es ist in einem Vorort, dann wird es wie eine Art kindliches Spiel, wenn er es versucht, dann mit dem Assistenten zu finden. Und dann hat man eben so diesen Reflex, dass man sich sagt: Ich schnapp euch jetzt, ihr Bastarde! Und das ist eben dieses männliche Ego, was dabei auch eine starke Rolle spielt.
"Kein einziges Tierwesen bringt sich aus Scham um"
Wellinski: Ihre Filme verhandeln im Kern den Unterschied zwischen Intellekt und Instinkt, oder anders gesagt: den Unterschied zwischen den Dingen, die wir denken, und den Dingen, die wir dann auch wirklich tun. Was interessiert Sie denn an diesen Konzepten?
Östlund: Sehr oft hat es ja auch damit zu tun, dass es diese Schuldimplizierung gibt. Wenn ich mir oft so die Abendzeitung durchlese, dann landen immer wieder Menschen in Schlagzeilen, die etwas Schlechtes getan haben, ihre Fotos werden veröffentlicht. Und wir tragen als Menschen eben sehr schnell eine gewisse Scham in uns, denn es gibt eine Art Erwartung von uns – ich nenne das jetzt mal so eine kulturelle Erziehung, die uns mitgegeben wurde –, die aber im Konflikt steht zu gewissen Instinkten, die wir haben, zum Beispiel unserem Überlebensinstinkt.
Das habe ich in meinem Film "Höhere Gewalt" ja thematisiert. Da ging es ja darum, dass ein Vater seine Familie einfach verlassen hat, er ist einfach davongerannt, als eine Lawine auf diese Familie zukam. Er hat seine Familie eben nicht beschützt, sondern er rannte davon. Nun ging diese Geschichte Gott sei Dank gut aus, der Familie geschah nichts und der Vater musste wieder zurück zur Familie und hat sich natürlich geschämt. Und seine Scham stand plötzlich im Gegensatz zu seinem Überlebensinstinkt. Und einerseits entstehen so komische Situationen, andererseits schaffen diese Situationen auch ein großes Leiden, weil wir uns nämlich in dem Moment anfangen zu schämen für diesen Überlebensinstinkt, der unseren Intellekt ausgeschaltet hat.
Und in Südkorea gab es ja vor einigen Jahren eine große Schiffskatastrophe, bei der sehr viele junge Leute, sehr viel Schüler gestorben sind und einer ihrer Lehrer hatte es überlebt. Und dieser Lehrer, der überlebte, hat später Selbstmord begangen. Und das zeigt ja auch irgendwie etwas, dass eben dieser Überlebensinstinkt manchmal dazu führt, dass wir nicht das tun, was wir tun sollen, wozu wir eigentlich von unserer Kultur her auch erzogen worden sind, nämlich zu helfen und zu retten. Und das Interessante an diesem Gedanken ist: Ich glaube, es gibt kein einziges Tierwesen auf der Welt, das sich aus Scham umbringt.
Wellinski: Das ist interessant, was Sie da sagen, weil der Hintergrund von "The Square" der internationale Kunstbetrieb ist. Sie zeigen uns die Museen, die Arbeit der PR-Abteilungen, die Kunst selbst, den Kurator, die Gäste. Dabei geht es Ihnen vor allem um die moderne Kunst. Aber warum ist es denn gerade die moderne Kunst, mit der Sie hier abrechnen?
"Irgendwelche Neons hängen an der Wand"
Östlund: Es gibt gewisse Aspekte im modernen Kunstbetrieb, die ich mir noch mal angeschaut habe. Und als ich damals mit unserem Projekt "The Square" eben in verschiedensten Museen für moderne Kunst war, da sind mir gewisse Dinge aufgefallen. Ich bin auch viel gereist, ich habe auch hier in Berlin beispielsweise Museen besucht oder in New York, und mir fiel irgendwie auf, dass all diese Museen moderner Kunst irgendwie das Gleiche tun: Es gibt irgendwelche Neons, die hängen an der Wand, und dann am Boden sind irgendwelche Objekte. Und irgendwie hat mich das daran erinnert: Das fing ja an mit einer richtigen Provokation, die auch wichtig war, nämlich als Marcel Duchamp 1917 einfach ein Pissoir in den öffentlichen Raum gestellt hat. Das war eine echte Provokation damals.
Aber heute frage ich mich eigentlich: Was ist Kunst? Provoziert sie wirklich noch oder ist es irgendetwas geworden, was ein Ritual ist, was zu einer Art traditionellen Provokation verkommen ist, die aber eigentlich mit einer echten Provokation nichts mehr zu tun hat? Und das werfe ich dem modernen Kunstbetrieb in gewisser Weise einfach vor, dass er sich nur noch für das interessiert, was innerhalb der Kunstmauern stattfindet, aber sich nicht mehr für das interessiert, was außerhalb der Mauern von Museen wirklich stattfindet.
Wellinski: Ist da nicht aber auch eine Enttäuschung mit dabei? Ich meine, die moderne Kunst ist mit den Avantgardisten vor gut 100 Jahren angetreten, um die Kunst eben aus den Museen rauszulösen. Die Kunst sollte ein Teil der Gesellschaft werden, ein Teil der Welt, des Alltags der Menschen. Und jetzt ist sie weiterhin hinter den Museumsmauern versteckt. Das nehmen Sie auf die Schippe, das zeigen Sie satirisch. Sie stellen aber auch die Frage, ob Kunst dadurch überhaupt etwas verändern kann.
Östlund: Ich glaube, dass alle künstlerischen Ausdrucksformen, ganz egal, ob das im Radio stattfindet, ob das Kunst ist oder ob das ein Film ist, dass sie Dinge verändern, auf jeden Fall. Das Problem ist einfach nur, wie diese Veränderung stattfindet. Und ein Film beispielsweise, der mit 1.000 Kopien gestartet wird, ein Mainstream-Film, kann viel mehr bewirken und viel mehr verändern als vielleicht ein kleiner Film, dem es nicht gelingt, so viel Aufmerksamkeit zu erregen. Das heißt, es gibt diesen permanenten Kampf, ein Autor, ein Schöpfer ist natürlich von dem überzeugt, was er da macht, aber damit er überhaupt etwas bewegen kann beim Zuschauer, muss er erst mal wahrgenommen werden. Es gibt also einen viel intensiveren Kampf darum, wahrgenommen zu werden in einer Zeit, wo die Aufmerksamkeitsspanne des Publikums eigentlich immer kürzer wird.
"Terry Notary ist einer der großartigsten Performer"
Wellinski: Sie zeigen ja auch sehr viele Kunstwerke, sehr viel Kunst. Selbst eine fast zwölfminütige Performance ist zu sehen. Sind das denn Kunstwerke, die Sie irgendwo auf der Welt so gefunden haben und in Ihrem Film eingebaut haben, oder ist das alles Kunst von Ruben Östlund, die Sie selber erschaffen haben?
Östlund: Ich habe mich durchaus inspirieren lassen von Performances, die vielleicht ein bisschen länger zurückliegen, die es vielleicht schon gegeben hat. Und ich habe doch sehr nach irgendwelchen Performances gesucht, die irgendwie komisch sind. Dazu fühlte ich mich schon ein bisschen mehr hingezogen. Und es hat eben in Stockholm eine Performance gegeben einmal, wo jemand sich als Hund ausgegeben hat, und dann biss er als Hund dem Kind des Kurators ins Bein und sie haben die Polizei gerufen. Da hat man halt gemerkt, da nimmt jemand seine Kunst wahnsinnig ernst. Und ich habe darauf angefangen, bei Youtube Schauspieler zu suchen, die Affen imitieren können.
Und dabei bin ich auf Terry Notary gestoßen, der das auch professionell macht. Der hat auch in großen Hollywood-Filmen wie "Planet der Affen" oder in "King Kong", schon da hat er Affen gemimt, bloß dass das ja in diesen teuren Produktionen über die sogenannte Motion Capture funktioniert, die bekommen ja so eine Art Leuchtdioden an den ganzen Körper und das wird dann eben so verfremdet, dass man das Gesicht und dass man den Schauspieler gar nicht mehr spürt. Aber in diesem Youtube-Interview, da sah man ihn. Und dann sagt er zum Beispiel einmal, ich bin ein Schimpanse – und er bewegt sich wirklich wie ein Schimpanse! Oder er meint, jetzt bin ich ein Gorilla – und dann wird er zum Gorilla. Und ich fand das einfach fantastisch, wie es ihm gelingt, seine ganze Zivilisation plötzlich abzustreifen und dann zum Tier zu werden und da hineinzuschlüpfen. Und das ist einer der großartigsten Performer, die ich jemals gesehen habe.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.