Info: Im Fünf-Jahresrhythmus verleiht die Stadt Siegen den Rubenspreis. In diesem Jahr geht die Auszeichnung an Miriam Cahn, eine sehr politische und streitbare Schweizer Künstlerin. Ihr Werk prägen die Themen Feminismus, Antisemitismus, Flucht sowie Sex, Gewalt und Ängste. Das Schicksal der Juden und der allgegenwärtige Antisemitismus prägen die Ausstellung im Museum für Gegenwartskunst in Siegen, die anlässlich der Rubenspreisverleihung zu sehen ist. „Meine Juden“ lautet der Titel.
"Ich werde immer als Jüdin reagieren"
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Miriam Cahn nennt sich selbst zornig. Ihre Bilder behandeln die Themen Gewalt, Lust und Antisemitismus. Jetzt erhält die streitbare Künstlerin den Rubenspreis der Stadt Siegen. Und dort ist auch eine Schau ihrer Werke zu sehen.
Ein kahlköpfiger Serge Gainsbourg hängt neben Porträts unbekannter Frauen und Männer. Die Zeichnung des französischen Chansonniers, der als Sohn ukrainisch-jüdischer Flüchtlinge in Paris geboren wurde, ist eines der Bilder, die den Blick sofort bannen.
Ebenso beeindruckend: eine nackte Frau, die einen schweren Koffer in die Höhe stemmt – das Gepäck ihrer Flucht. Eine Reminiszenz an Miriam Cahns Großmutter, die aus Nazideutschland fliehen musste. Nicht alle Bilder sind Originale. Die meisten aus dieser Serie sind nach Japan verkauft worden.
"Das, was Sie hier sehen", erklärt Miriam Cahn, "sind natürlich Abbilder aus dieser Arbeit." Für sie gebe es da aber keinen Unterschied, sagt sie, das sei die gleiche Form. Ob es um Scans oder Drucke geht, Cahn spricht von Reproduktionen. Auch wenn ihr mickriger Drucker mache, was er will: In ihren Augen sieht es toll aus.
Neben den Bildern findet sich ein Text über „Meine Juden“. Miriam Cahns Vater war Jude, sie selbst begann während eines Stipendienaufenthalts in Deutschland sich mit dem Judentum auseinanderzusetzen.
Auch ohne Glauben fühlt sie sich als Jüdin
"Meine Juden sind meine Juden sind meine Juden", heißt es in dem Text. "Bei einer Person wie mir", meint Miriam Cahn, "die überhaupt nichts mit Glauben zu tun hat, ist das von Fall zu Fall unterschiedlich, was das bedeutet. Aber ich denke natürlich, genau wie Hannah Arendt, ich werde immer als Jüdin reagieren, wenn mir Antisemitismus begegnet."
Der Antisemitismus unserer Zeit sei vielschichtig und omnipräsent, wie auf der aktuellen Documenta, sagt Cahn. Sie ist empört über die dort gezeigten Bilder und das Verhalten der Macher*innen: "Ich hätte da wahrscheinlich von Anfang an nicht mitgemacht. Ich finde es ein total falsches, kolonial gedachtes Konzept. Das ist nicht mein Ding."
Die Documenta beschließe jetzt "gnädigerweise", der Globalisierung in unserem Süden "mehr oder weniger" eine Chance zu geben.
Sie fragt sich: "Warum schaut man nicht richtig hin?" Und antwortet: "Weil die Angst besteht, dass man ja als Westler eingreifen könnte und dass das dann missverstanden wird als koloniales Denken."
Es gehe nicht um Kontrolle, meint sie. "Aber du musst doch wissen, was du machst. Und da hat die Direktion komplett versagt." Und was ist das Resultat? "Am Schluss fällt alles auf die Juden, wie immer", konstatiert Cahn.
Es wird immer Krieg geben
14 Räume hat die 72-jährige Schweizerin in Siegen gestaltet. Fast 400 Arbeiten sind zu sehen. Kuratiert, gehängt und arrangiert von ihr selbst. Alle Arbeiten befinden sich auf Augenhöhe, wie immer bei Cahn. Und wie immer sind sie sehr politisch. Vor allem jene Zeichnungen, die schweres Kriegsgerät aus der Zeit des Kalten Krieges zeigen. Panzer, Raketen, all das, was heute wieder wie selbstverständlich zum Alltag gehört.
Miriam Cahn hat auch nie die Illusion geteilt, dass irgendwann Frieden auf der Welt herrschen würde: "Ich glaube, diese Hoffnung ist auch total falsch. Es ist total falsch. Erstens hat es Kriege immer gegeben. Der Bruch war in meinen Augen, als der Kalte Krieg aufgehört hat. Und da hatte man ungefähr ein Jahr lang die Hoffnung: Okay, jetzt hört das auf mit diesen Kriegen. Und so ganz toll hat man sich gefreut. Ich habe mich sehr schnell nicht mehr gefreut."
Ihr Zorn treibt sie an
Cahn ist zornig über die Irrtümer, die Menschen begehen, den Hass auf der Welt. Dieser Zorn treibt sie an. Und so ziehen sich drei große Themen als roter Faden durch die Räume „Feminismus“, „Flucht“ und „Meine Juden“. Zeichnungen von Baracken in Auschwitz sind ebenso zu sehen wie eine Mutter, die mit ihrem Kind im strahlend blauen Mittelmeer versinkt.
Kopulierende Paare, bei denen die Grenze zwischen Lust und Gewalt als dünnes Band erscheint und gebärende Frauen, aus deren Vulven wie selbstverständlich die Babys kriechen.
Es ist Miriam Cahns Antwort auf das berühmte Bild Gustave Courbets „Der Ursprung der Welt“: "Das gibt es in der Kunstgeschichte nicht. Das ist neu." Als Künstlerin sieht sie es im Gegensatz zum Künstler als Chance, Themen zu haben, die ihrer Meinung nach nie behandelt wurden: "Weil alle Kunst bis jetzt mehr oder weniger von Männern gemacht war. Die haben das alles prima gemacht, aber natürlich nur aus ihrer Sicht. Deshalb ist das ein interessanter Moment mit diesen Gebärenden."
Querschnitt durch Cahns Schaffen
Die Ausstellung ist keine Retrospektive, die Bilder sind nicht chronologisch gehängt, aber die Schau bietet dennoch einen großartigen Querschnitt von Miriam Cahns Schaffen. Thomas Thiel, Direktor vom Museum für Gegenwartskunst in Siegen, glaubt, die Ausstellung führt, gerade wenn man das Werk von Miriam Cahn nicht kennt, in eine Art Strudel: "Wo sich natürlich vieles miteinander vermischt, aber in den einzelnen Motiven auch Themen gesetzt und erkennbar sind."
Für Thiel zeichnet Cahns Arbeit außerdem aus, "dass die Bilder einen auch berühren oder natürlich viel mit unserer Welt auch zu tun haben."
Miriam Cahn zeigt die Welt, aber auch sich selbst. „Meine Juden“ ist die sehr persönliche Schau einer Künstlerin, für die das Private immer auch politisch ist. Die Bilder aus fünf Jahrzehnten haben nichts an Aktualität verloren. Den Rubenspreis hat die Schweizerin zu recht verdient.
„Miriam Cahn – Meine Juden" im Museum für Gegenwartskunst in Siegen ist bis zum 23. Oktober 2022 zu sehen.