Kommentar zu Rubiales

Körperlichkeit im Fußball neu denken

Claudio Tapia, Präsident des Argentinischen Fußballverbands (AFA), küsst Ex-Nationalspieler Sergio Agüero bei der WM-Siegerehrung in Katar auf den Kopf.
Hätte Rubiales auch einen Mann geküsst? Sein Amtskollege Claudio Tapia, Präsident des Argentinischen Fußballverbands, hat es 2022 in Katar getan, bei Sergio Agüero - allerdings nicht auf den Mund. © picture alliance / firo Sportphoto / Sebastian EL-SAQQA
Ein Einwurf von Tanja Dückers |
Nach dem Übergriff von Luis Rubiales bei der Frauen-Fußball-WM ist der Aufschrei groß. Doch regt der Vorfall auch an, Körperlichkeit im Fußball kritisch zu hinterfragen. Denn die wurde bisher von Männerritualen geprägt, findet unsere Autorin.
Zweifellos hat Luis Rubiales, der Präsident des spanischen Fußballverbands, einen gravierenden Fehler gemacht. Entstanden ist ein perfektes Medienspektakel mit den Ingredienzen Lust und Gewalt, Empörung und Verurteilung, überstrahlt von geradezu alttestamentarischem mütterlichen Opfertum. Rubiales‘ Mutter hat angekündigt, in den Hungerstreik zu treten, bis ihrem Sohn Gerechtigkeit widerfährt.
Doch die Personalisierung und Fixierung des Problems auf den Funktionär Luis Rubiales, die aufgeregten Diskussionen auf allen Kanälen um diesen Kuss, verstellen den Blick auf dahinterliegende, grundlegende Fragen und Veränderungen im Profi-Fußball.

Ein Haufen Männerfreude

Dass Fußball eine höchst körperbetonte Sportart ist, kann niemand abstreiten. Das kann man in und nach jedem Spiel beobachten: Männer umarmen einander, fallen sich um den Hals, bespringen sich, rollen gemeinsam, gern im Haufen, auf den Boden. Viele an Fußball interessierte Frauen schütteln angesichts solcher Szenen stets den Kopf.
Der kroatische Fußballnationalspieler Luka Modric küsst Torhüter Dominik Livakovic.
Intimität mit Konsens? Freudenküsse sind im Männerfußball keine Seltenheit, wie etwa bei der kroatischen Nationalmannschaft bei der WM 2022 in Katar.© picture alliance / firo Sportphoto / PSI / Nigel KEENE
Bisher wurden die Spielregeln, was an Körperkontakt erlaubt ist und gefällt, von männlichen Spielern und Funktionären definiert.  Doch nun erfährt der Frauenfußball immer mehr öffentliche Beachtung - eine überfällige Entwicklung. Und es stellen sich Fragen wie: wer definiert jetzt die Spielregeln für das körperliche Miteinander in der physisch stark aufgeladenen Welt des Fußballs? Wie verändern sich diese Spielregeln, wenn immer mehr Frauen, Sportlerinnen, diese Szene selber bespielen? Wie sollen die männlichen Fußballer-Kollegen, Trainer und Funktionäre  mit den Spielerinnen umgehen, welche Formen sind erlaubt, welche nicht? Wie feiert man, wie gratuliert man sich zu einem Sieg? 

Hätte Rubiales auch einen Mann geküsst?

„Wie schwierig ist es, jemanden nicht auf die Lippen zu küssen?“, hatte der Sprecher von UN-Generalsekretär António Guterres, Stephane Dujarric, kürzlich gefragt. Diese Frage war rhetorisch gestellt worden. Doch sie ist nicht so einfach zu beantworten in der körperbetonten Welt des Fußballs. Rubiales‘ Kuss ist nicht nur affektiv-übergriffig, sondern auch Ausdruck einer verqueren Galanterie. Und natürlich ist er eine erotisch gefärbte Machtgeste: Das mache ich jetzt einfach, das erlaube ich mir. Die männlichen Top-Spieler Spaniens hätte Rubiales sicher nicht auf den Mund geküsst, Hermoso hätte er aber wiederum auch nicht in der Weise angesprungen und zu Boden gerissen wie es unter männlichen Spielern üblich ist.
Joaquin Correa küsst Lionel Messi
Brokiss? Nicht nur die argentinischen Fußballer Lionel Messi und Joaquin Correa standen sich bei der WM 2022 in Katar sehr nahe.© IMAGO / ActionPictures / IMAGO
Dennoch: Statt nun den „Fall Rubiales“ in MeToo-Diskussionen indirekt auf eine Stufe zu stellen mit präzise planenden Schwerverbrechern wie Harvey Weinstein und Jeffrey Epstein, was bei Rubiales‘ Affekthandlung dann doch unangebracht ist, sollte man besser überlegen, wie die Sensibilität für übergriffiges Verhalten erhöht werden kann ohne spontane Gesten unmöglich zu machen.

Muss es denn immer Bespringen sein?

Lange Zeit wurde der „Damenfußball“ wie er mal hieß am Fußball der Männer gemessen. Stets wurde dabei Defizitiäres betont: Weniger Laufgeschwindigkeit, angeblich ein langweiligeres Spiel. Nun ist es an der Zeit, am Frauenfußball Wegweisendes zu entdeckten. So sagt Bettina Rulofs vom Institut für Sportsoziologie an der Deutschen Sporthochschule Köln: „Es gibt weniger Fouls und Rempeleien. Die Frauen spielen nicht so stark körperbetont, sind nicht so auf körperliche Einschüchterung des spielerischen Gegners ausgelegt“. Dass Frauen weniger Fouls als Männer vortäuschen, hat eine US-Studie, über die die New York Times berichtete, längst bewiesen. Auch Schimpfen und theatralisches Jammern ist unter den Spielerinnen weniger verbreitet, meint Nadine Angerer, ehemalige Torhüterin der Deutschen Nationalelf.
Vielleicht wird der Fußball in Zukunft weniger körperbetont sein. Vielleicht werden auch noch andere Fragen gestellt: Zum Beispiel: Sind eigentlich alle männlichen Spieler von diesen Bespring-Attacken begeistert? Gibt es Verhaltensweisen, die auch von Männern als übergriffig und unangenehm empfunden werden? Kurz: Es gibt viel mehr zu besprechen als diesen Kuss. 
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