„Die Stimme der Revolution“ – Rudi Dutschke in zwölf Originaltonaufnahmen
Ousia Lesekreis-Verlag, Seedorf 2021
5 Audio CDs, 1 MP3-Bonus-CD, 2 Booklets mit insgesamt 128 Seiten, 35,90 Euro
Revolutionäre Weltveränderung
Studentenführer Rudi Dutschke © picture-alliance / Klaus Rose
Was Greta Thunberg von Rudi Dutschke lernen könnte
14:37 Minuten
1968 wollte die Studentenbewegung, vorneweg Rudi Dutschke, die Welt verändern. Heute will Fridays for Future, vorneweg Greta Thunberg, die Welt verändern. Beide vereint revolutionäre Ungeduld. Dutschke-Biograf Ulrich Chaussy meint, Thunberg könnte von Dutschke lernen.
Will ich beschreiben, wie es ist, Dutschke 2021 wieder zu hören, muss ich schildern, wie es war, ihn das erste Mal zu hören – und ihn dabei zu sehen, in Schwarz-weißen Fernsehbildern, aus einem rings um die beiden Gesprächspartner völlig abgedunkelten Fernsehstudio des Süddeutschen Rundfunks. Es ist der 3. Dezember 1967, ich sitze mit meinem Vater gebannt vor unserem noch neuen, ersten Fernsehgerät. Und dann rechnet ein augenscheinlich nervöser Günter Gaus in einem Vorspann, warum er Dutschke eingeladen hat.
„Er muss es – er und seine Freunde müssen es hinnehmen, dass die Art ihrer Argumente sie gelegentlich nicht mehr als Gesprächspartner ernsthaft in Betracht kommen lässt. Das – wie ich meine – kann uns nicht hindern zu versuchen dahinterzukommen, was denn diese jungen Leute, diese Revolutionäre, was sie sein wollen, ganz bewusst sein wollen, in einer Zeit, in der man an Revolutionen nicht mehr glauben kann – was denn diese Revolutionäre wirklich vorhaben.“
Dann sehen wir Dutschke, wie er in einem Armlehnstuhl dem Interviewer Günter Gaus gegenübersitzt, dem die Kamera meist von hinten über die Schulter schaut, Dutschke direkt ins Gesicht. Der trägt denselben Ringelpullover, den wir an ihm schon gesehen haben in diesem Sommer und Herbst 1967, in den verwackelten, sekundenkurzen „Tagesschau“-Zuspielfilmen, als voranstürmenden Frontmann auf Demos, als Aktivisten und Agitator mit dem Handlautsprecher, als Volkstribun.
Dutschkes Ringelpullover als Signet
Der Ringelpullover wird an diesem Fernsehabend für meinen Vater und für mich zum Signet einer verschieden empfundenen Verknüpfung. Für mich, den 15-jährigen Gymnasiasten, belegt der hier wie dort getragene Pulli: Dutschke, der eine Art großer Bruder für mich ist, der vieles aussprechen kann, was ich fühle und woran ich mich in Gedanken gerade erst herantaste, steht für seine Wahrheiten ein und hält für sie auch auf der Straße seine Haut hin, strahlt, wie man später sagt, street credibilty aus.
Für meinen Vater wirkt das Ringelpullover-Signet andersherum: Dutschke, den er in diesem Outfit nur als Outlaw kennt, als Parolen skandierenden Unruhestifter und Bürgerschreck, der Vater erlebt Dutschke nun als Diskutanten, der seine Kraft aus Reflexion und Wissen zieht.
„1918, um damit zu beginnen, erkämpften die deutschen Arbeiter- und Soldatenräte den 8-Stundentag. 1967 arbeiten unsere Arbeiterinnen und Arbeiter und Angestellten lumpige vier, fünf Stunden weniger pro Woche. Nach dem Zweiten Weltkrieg begann ununterbrochen das Gerede der Regierungen über Wiedervereinigung. Nun haben wir schon 20 und mehr Jahre keine Wiedervereinigung. Dem Volk wird nicht die Wahrheit gesagt. Es wird kein Dialog mit den Massen hergestellt, kein kritischer Dialog, der erklären könnte, was in dieser Gesellschaft los ist.“
Vater und Sohn streiten bis in die Nacht
Nach Gaus und Dutschke liefen mein Vater und ich nicht sprachlos auseinander, sondern redeten und stritten bis in die Nacht hinein. Die beiden, jeder in seiner Art, hatten uns in ein Gespräch gezogen. Die Ernsthaftigkeit Dutschkes hatte meinen Vater beeindruckt. Ich faselte was von mörderischer Arbeitshetze am Fließband bei Siemens. Und das erboste meinen Vater, einen „Siemensianer“, der „wir” sagte, wenn er von seinem lebenslangen Arbeitgeber sprach.
Ich wusste nichts von den Arbeitern am Fließband bei Siemens. Aber ich erspürte, wie der Vater zu treffen war. Man konnte sich mit eigenen Sätzen, und waren sie noch so geborgt, aus der bisher empfundenen Ohnmacht befreien. Rudi Dutschke bei Günter Gaus, das war eine Anleitung zur Selbstermächtigung, ja noch mehr, eine kräftigende Infusion von Geschichtsoptimismus. Auch wenn dieser, von heute aus betrachtet unglaublich naiv klingt.
„Wir sind nicht hoffnungslose Idioten der Geschichte, die unfähig sind, ihr eigenes Schicksal in die Hand zu nehmen. Das haben sie uns jahrhundertelang eingeredet. Viele geschichtliche Zeichen deuten darauf hin, dass die Geschichte nicht einfach ein ewiger Kreisel ist, wo immer nur das Negative triumphieren muss. Wir können eine Welt gestalten, wie sie die Welt noch nie gesehen hat, eine Welt, die sich auszeichnet, keinen Krieg mehr zu kennen, keinen Hunger mehr zu haben. Ich bin kein Berufspolitiker, aber wir sind Menschen, die nicht wollen, dass diese Welt diesen Weg geht, darum werden wir kämpfen und haben wir angefangen zu kämpfen.“
Dutschke einmal nicht als Volkstribun
Ich erwähne das Gespräch Dutschkes mit Gaus nicht nur der persönlichen Erinnerung wegen. Die Fernsehsendung „Zu Protokoll. Rudi Dutschke“ ist in mehrfacher Hinsicht einzigartig. Dutschke sitzt einem einzigen Zuhörer gegenüber, ist also physisch abgeschnitten von den „Massen“, obwohl ihn niemals davor und niemals danach mehr Menschen hören und sehen als an jenem ersten Adventssonntag im Dezember 1967: das Millionenpublikum des öffentlich-rechtlichen Fernsehens.
In diesem Setting fällt zu Dutschkes Vorteil das Volkstribunhafte von ihm ab, zumal Günter Gaus sich nicht von seinem Gegenüber zu Emotionen hinreißen lässt, weder als williger Claqueur noch als schnaubender Kontrahent. Dies eine Mal hatte Dutschke eben nicht das Echo, den Widerhall, die Bestätigung seiner gewohnten Gefolgschaft, auf dem Campus, in den Hörsälen der Universitäten, auf den Schlusskundgebungen der zahllosen Demonstrationen auf Straßen und Plätzen. Dies eine Mal kitzelt niemand die emotionale Zuspitzung aus dem Redner Dutschke heraus, und es gelingt ihm dafür die argumentative umso besser.
Dutschke jetzt wieder zu hören, das erlebe ich als ein Déjà-vu. Greta Thunbergs Auftreten und Argumentationsweise 2021 lassen an Rudi Dutschke 1967 denken: der lutherische Zug, das sagen und tun zu müssen, wofür sie einstehen, diese Unbedingtheit, mit der sie ihre Botschaften kommunizieren. Ihre Berufung auf internationale, ja globale Entwicklungen, die mit einer unabdingbaren Notwendigkeit auf uns zukommen und unser entschiedenes und möglichst solidarisches Handeln erfordern, ja erzwingen. Ihre minimale Eitelkeit. Ihr Desinteresse an persönlicher Macht. Und ihre radikale Kritik an den Mächtigen, vor allem der Supermächte und der reichen Industrieländer.
Dutschke und Thunberg gegen die Ausbeutung
Dutschke prangerte die neokoloniale wirtschaftliche Ausbeutung der Dritte-Welt–Länder an – und die Unterdrückung der sich dort formierenden Befreiungsbewegungen. Thunbergs kritischer Ansatz begreift diese Kritik mit ein, geht aber noch tiefer. Ausgebeutet und überstrapaziert werden nicht nur die menschlichen Ressourcen, die der ärmeren Länder durch die reichen, sondern auch die der Natur, bis zum Kipppunkt des gesamten Planeten und der Existenzbedrohung aller Menschen.
Dutschke forderte und organisierte eine außerparlamentarische Opposition, die er antiparlamentarisch ausrichtete. Veränderung konnte für ihn nur durch revolutionäre Prozesse bewerkstelligt werden.
„Der heutige Faschismus steckt in allen autoritären Institutionen, in der Gesamtheit der bestehenden bürgerlichen Institutionen und im Staatsapparat. Den letzteren zu sprengen ist unsere Aufgabe und daran arbeiten wir.“
Nach Dutschke-Attentat zerfranste die Bewegung
Als Dutschke nach nicht einmal einem Jahr seines Engagements am 11. April 1968 von dem Rechtsextremisten Josef Bachmann an den Rand des Todes geschossen wurde und seine Sprache und Sprechfähigkeit erst wieder neu erwerben musste, da fehlte er just in diesem Moment.
Jetzt hätte er den von ihm freigesetzten Energien der antiautoritären Studentenbewegung ein strategisches Ziel zu geben, die bestehenden Institutionen herauszufordern und doch in die bestehenden Parteien und Parlamente hineinzuwirken. Die Bewegung zerfranste in autoritär organisierte, rückwärtsgewandte kommunistische Splitterparteien – und an ihrem militanten Rand in Terrorgruppen wie die RAF, die den bewaffneten Kampf aufnahmen.
Greta Thunberg setzte sich eines Freitags im Jahr 2018 mit ihrem Pappschild „Schulstreik für das Klima“ auf die Straße vor dem schwedischen Parlamentsgebäude. Und alle, die es ihr seither weltweit gleichtun, organisieren außerparlamentarischen Druck, um auf die Parlamente und Regierungen einzuwirken. Dabei haben Fridays for Future mittlerweile international einen Sturm entfaltet, gegen den das Momentum, das Dutschke und die 68er ausgelöst haben, wie ein zarter Windhauch erscheint, der nur kurz und regional geweht hat.
Thunbergs Ton verschärft sich
Mittlerweile kann man hören, wie sich Greta Thunbergs anfangs artiger Ton mit den Mächtigen verschärft, von Frustration zu Frustration. „How dare you!“ „Nur „Bla, bla, bla!“ Es ist hörbar, wie ihr das Vertrauen auf die Sinnhaftigkeit des Dialoges mit der Politik zunehmend abhandenkommt, wie einst Dutschke und den 68ern.
„Gestatten Sie mir zu träumen“ ist Dutschkes allerletzter Text überschrieben, ein kurioses Gedicht für die Silvesterausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ 1979, in dem er, wenige Tage vor seinem Tod, zu Helmut Schmidt und Erich Honecker ein wiedervereinigtes Deutschland ohne Waffen und Atomkraftwerke imaginierte. Ein utopisches und bizarres Szenario damals – heute teilweise eingelöst.
Dutschke trifft Thunberg - im Traum
Ich gestatte mir, von einem Treffen von Rudi Dutschke und Greta Thunberg zu träumen.
Rudi Dutschke war 1979, über zehn Jahre nach den Schüssen auf ihn, die ihm die Sprache raubten, wieder zu Kräften gekommen. Er war auf dem Sprung zurück nach Deutschland und in die Politik. Aber ganz anders als einst. Mit feurigen Wahlkampfreden für die Bremer Grüne Liste Umweltschutz. Sie hat es mit Dutschkes Hilfe als erste Grüne Gruppierung bei der Wahl zur Bremer Bürgerschaft mit 5,1 Prozent der Stimmen in ein deutsches Länderparlament geschafft.
Am 24. Dezember 1979 ist Rudi Dutschke plötzlich an den Spätfolgen des 1968 auf ihn verübten Attentats gestorben. Sein Platz als Delegierter beim Gründungsparteitag der Grünen am 10. Januar 1980 musste leer bleiben.
Wenn es nun darum geht, wie man den schwer erträglichen Spagat hinbekommt zwischen revolutionärer Ungeduld und dem Atem für den langen Marsch – wer könnte Greta Thunberg da besser raten – als Rudi Dutschke?